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oder mangelnden Bereitwilligkeit des Zentrums. Das mußte dieser Partei nicht nur ein sehr starkes Machtbewußtsein, sondern auch sehr große tatsächliche Macht geben. Das vor 1907 oft gehörte Wort vom „allmächtigen Zentrum“ entbehrte nicht der Berechtigung. Einer Partei, von deren gutem Willen das Reich in allen nationalen Existenzfragen abhing, fehlte in der Tat nicht viel zu politischer Hegemonie wenigstens auf denjenigen Gebieten, die verfassungsgemäß dem Einfluß der Parteien und der Volksvertretung offenstehen. Als nun vollends die Kolonialdebatten des Winters 1906 zeigten, daß keineswegs mit voller Sicherheit auf das Zentrum in allen nationalen Fragen gerechnet werden konnte, wurde es klar, daß die Aufgabe, diese Fragen im Parteikampf sicherzustellen, noch erst zu lösen war. Das Einschwenken der Fortschrittspartei, der Wahlsieg der neuen Mehrheit, des Blocks, bedeutete das Ende jener eben gekennzeichneten Zentrumsherrschaft. Das Zentrum erfuhr, daß das Schicksal nationaler Fragen nicht mehr von ihm allein abhing, und es erfuhr weiter, daß die ablehnende Haltung in solchen Fragen seiner parlamentarischen Machtstellung verhängnisvoll werden konnte. Wenn auch der Block nur wenige Jahre zusammengehalten werden konnte, so bleibt doch immer die Möglichkeit bestehen, daß er sich wieder zusammenfinden würde, wenn das Zentrum in einer nationalen Lebensfrage versagen, an der Seite der Sozialdemokratie ein nationalen Zwecken dienendes Gesetz zu Fall bringen sollte. Das Zentrum wird nicht so bald wieder wie mehrfach in früheren Jahren aus einer Verstimmung über Vorgänge der inneren Politik Konsequenzen für seine Haltung gegenüber nationalen Fragen ziehen. Daß die Freisinnigen den 1906 vollzogenen Frontwechsel als bleibend ansehen, haben sie im Frühjahr 1912 und im Sommer 1913 bewiesen.

Daß sich eine solche Entfaltung des nationalen Gedankens, eine derartige Wandlung in der Stellung der Parteien zu den Wehr- und Rüstungsfragen des Reiches vollzogen hat, muß den Patrioten mit Freude und Zuversicht erfüllen. Vor 50 Jahren sah sich König Wilhelm im Kampfe um die Reorganisation des preußischen Heeres mit seinem Ministerium und einer kleinen konservativen Minderheit allein. Um jede auch kleine Militärforderung hat nach der Reichsgründung ein Bismarck zäh mit den Parteien ringen müssen. Das Jahr 1893 sah um eine Militärforderung aufs neue einen schweren innerpolitischen Konflikt. Im Oktober 1899 mußte Kaiser Wilhelm II. klagen, daß die Verstärkung der Flotte ihm während der ersten 8 Jahre seiner Regierung „trotz inständigen Bittens und Warnens“ beharrlich verweigert worden wäre. Als dem Flottengedanken endlich Boden im Volke gewonnen war, konnten doch die einzelnen Flottengesetze nicht ohne schwere parlamentarische Kämpfe unter Dach gebracht werden.

Die Wehrvorlagen des Jahres 1912 wurden von der Gesamtheit der deutschen bürgerlichen Parteien des Reichstages bewilligt. Die Militärvorlage des Jahres 1913 fand eine Bereitwilligkeit der Parteien vor, wie nie zuvor irgendeine Forderung für die Rüstung zu Lande und zu Wasser. Um die Wehrvorlage selbst war überhaupt kaum eine ernsthafte Auseinandersetzung erforderlich. Wenn um die Deckungsfragen von den Parteien gestritten wurde, so waren hierfür Gründe der allgemeinen parteipolitischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/97&oldid=- (Version vom 31.7.2018)