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er sich aus dem politischen Leben zurückzog, prophezeit hatte, war in Erfüllung gegangen. In den weitesten Kreisen des Volkes hat man die wahre Bedeutung der Wendung von 1906 mit sicherem Gefühl empfunden und verstanden, bis später wieder parteiprogrammatische Prinzipienreiterei wie so oft die klaren Tatsachen verdunkelte.

Einen großen Erfolg und eine wichtige Lehre haben die Blockjahre gebracht. Die nationale Front ist verbreitert worden, und der Beweis wurde geliefert, daß die Sozialdemokratie zurückgeworfen werden kann. Hier wie dort ein bedeutsamer Gewinn für die Lösung der Aufgaben, die die wichtigsten unserer inneren Politik sind.

Die Freisinnigen sind seit 1907 national einrangiert. Die kleinen Armee- und Flottenvorlagen vom Frühjahr 1912 sind von ihnen ebenso angenommen worden wie die große Armeevermehrung des Sommers 1913 und die kolonialpolitischen Forderungen. Für die Wertung der freisinnigen Mithilfe darf nicht allein die Erwägung maßgebend sein, ob die Wehrgesetze auch ohne die freisinnige Mitarbeit eine Mehrheit im Reichstag gefunden hätten. Der Gewinn liegt darin, daß früher wohl eine Mehrheit von bürgerlichen Parteien für die nationalen Erfordernisse des Reiches einstand, eine Mehrheit, die meist mit großer Mühe zusammengebracht werden mußte, jetzt aber die sämtlichen bürgerlichen Parteien gegenüber der Sozialdemokratie und den nationalistischen Parteien und Parteisplittern zusammenstehen. Die nationalen Fragen des Reiches haben aufgehört, ein Gegenstand innerpolitischer Besorgnis zu sein. Und die geschlossene Wucht, mit der in den Angelegenheiten der Reichsverteidigung der nationale Gedanke im gesamten deutschen Bürgertum zum Ausdruck kommt, muß auch für das deutsche Ansehen im Auslande als wertvolles Aktivum gebucht werden.

Zur Geschichte der deutschen Wehrpolitik.

Man darf nur zurückblicken auf das Los der größeren Wehrvorlagen während der letzten Jahrzehnte, um den Fortschritt zu ermessen, der errungen worden ist. Das ist um so bedeutsamer, als der nationale Gedanke heute nicht nur in der Richtung der alten ruhmreichen preußisch-deutschen Kontinentalpolitik wirken soll, sondern auch in der Richtung der neuen Weltpolitik, die einstweilen mehr Zukunft als Vergangenheit bedeutet. Es gilt heute nicht nur die Armee, sondern auch die Flotte. Die bürgerlichen Parteien im Reichstag haben größere materielle Opfer für die nationalen Leistungen vor dem Lande zu vertreten, und sie sollen deshalb dem nationalen Gedanken einen größeren Raum geben.

Es ist an sich eine gewiß seltsame Tatsache, daß gerade im waffentüchtigsten und waffenfrohesten der Völker Europas die Parteien sich so schwer mit neuen Forderungen für die Wehrkraft des Reiches abgefunden haben, daß erst nach mehr als dreieinhalb Jahrzehnten eine Einmütigkeit wenigstens der bürgerlichen Parteien erreicht werden konnte. Die Schuld an dieser Haltung der Parteien trug weniger mangelnder Patriotismus als jene parteipolitische Machtpolitik und die parteiprogrammatische Verbissenheit, von denen schon die Rede war. Der Regierung fiel die Aufgabe zu, die in allen bürgerlichen Parteien ruhenden patriotischen Gefühle zu wecken, zu beleben und sie spontan und vorurteilslos festzuhalten, wenn sie stark genug schienen für die praktische Mitarbeit an den

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/94&oldid=- (Version vom 31.7.2018)