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durfte nicht lediglich für den Augenblick, er mußte im Hinblick auf die Vergangenheit und mit Rücksicht auf die Zukunft gelöst werden. Die Notwendigkeit, eine Mehrheit für nationale Fragen ohne das Zentrum zu bilden, bestand im Grunde seit dem Bruch des Bismarckschen Kartells und war geschaffen durch die Konsequenzen, die das Zentrum aus seiner Unentbehrlichkeit für die Durchführung nationaler Aufgaben gezogen hatte. Es war also ein altes Problem, das 1907 zur Lösung stand, das durch die vorangegangenen Abstimmungen wieder aktuell geworden, nicht aber erst durch sie gestellt worden war: eine nationale Mehrheit ohne das Zentrum. Nicht eine Mehrheit wider das Zentrum, nicht eine nationale Mehrheit, von der das Zentrum ausgeschlossen bleiben sollte, sondern eine nationale Mehrheit, stark und in sich fest genug, nationalen Forderungen auch ohne Zentrumshilfe gerecht zu werden. Gelang das, so war für das Zentrum das verführerische Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit zerstört, war der Gefahr einer Mehrheitsbildung von Zentrum und Sozialdemokratie die Spitze abgebrochen. Als die Volkspartei bei den Abstimmungen über die Kolonialgesetze den Konservativen und Nationalliberalen zur Seite trat, sah ich die Möglichkeit einer neuen nationalen Mehrheitsbildung vor Augen. Es hätte meiner Überzeugung von der Ausgleichbarkeit der konservativ-liberalen Gegensätze, von dem Segen und dem erzieherischen Wert eines konservativ-liberalen Zusammengehens nicht bedurft,um mich diese Möglichkeit ergreifen zu lassen. Ich erfüllte meine Pflicht, als ich es tat. Nicht gegen das Zentrum als solches, sondern gegen das im Bunde mit der Sozialdemokratie in Opposition befindliche Zentrum wurde die Blockmehrheit gebildet. Als eine rein nationale Angelegenheit wurden die Blockwahlen von der Nation aufgefaßt. Die Stimmung in der Nation, als der Wurf gelungen war, war nicht parteipolitische Triumphstimmung, sondern patriotische Befriedigung. Aus den innerpolitischen Erfahrungen von fast zwei Jahrzehnten war der Block gereift. Eine Verheißung für die kommenden Jahrzehnte lag in der Gewinnung auch der letzten der bürgerlichen Parteien für die nationalen Aufgaben des Reichs.

Der Gedanke, der dem sog. Block zugrunde lag, war ein ähnlicher wie der, der dem Kartell zugrunde gelegen hatte. Ich möchte sagen: der Block war die den veränderten Zeitverhältnissen angepaßte modernere Verwirklichung eines alten Gedankens. An eine Wiederholung des Kartells aus Konservativen und Nationalliberalen war schon seit langer Zeit nicht mehr zu denken. Die alten Kartellparteien waren zwischen den Mühlsteinen Zentrum und Sozialdemokratie so sehr zerrieben worden, daß keine Hoffnung mehr bestand, die Kartellmehrheit in absehbarer Zeit wieder zu erneuern. Um im Notfalle zur Bildung einer nationalen Mehrheit die Hilfe des Zentrums entbehren zu können, mußte der Freisinn hinzugezogen werden. Als die Freisinnigen im Jahre 1906 die Hand zu nationaler Mitarbeit boten, mußte die Regierung diese Hand ergreifen – und sie festhalten. Es handelte sich nicht darum, eine Partei für die Regierung zu gewinnen, sondern um ein weiteres Stück Boden für den nationalen Gedanken im Volke. Seit der Gründung des Reiches schwenkte der alte Freisinn zum ersten Male in die nationale Front ein. Die Art, wie er es tat, ließ kaum einen Zweifel, daß die Wendung nicht für den Moment, sondern für die Dauer gedacht war. Was mir Eugen Richter, nicht lange bevor

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/93&oldid=- (Version vom 31.7.2018)