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auf einen mehr oder minder lahmen Kompromiß eingelassen hätte. Aber es handelte sich um einen jener Momente, wo im Interesse des Landes der Kampf geboten ist. Eine Regierung, die in einem solchen Augenblick vor dem Kampf zurückschreckt, um sich das Leben nicht zu erschweren, stellt die eigene Sache über die Sache des Vaterlandes. Hier gilt der militärische Grundsatz, daß Wirkung vor Deckung geht. Die Regierung ist für das nationale Interesse da, nicht das nationale Interesse für die Regierung. Ich hatte das Zentrum rechtzeitig auf die Konsequenzen seiner Haltung hingewiesen. Wenn nachträglich behauptet worden ist, das Zentrum habe nicht gewußt, um was es sich am Ende handele, so darf ich auf meine Reichstagsreden und Erklärungen in jenen bewegten Tagen hinweisen, die solche Behauptungen mehr als ausreichend widerlegen. Wenn ich nach Reden, wie ich sie am 28. November und am 4. Dezember 1906 gehalten hatte, nicht entweder aufgelöst hätte oder zurückgetreten wäre, so würde ich mich nicht mehr auf der Straße haben sehen lassen können. Als die aus Zentrum, Sozialdemokraten, Polen und Elsässern bestehende Mehrheit des Reichstages sowohl auf der Herabsetzung des Nachtragsetats für Südwestafrika von 29 auf 20 Millionen bestand wie auf der Forderung nach einer Verminderung der Schutztruppe im kaum befriedeten afrikanischen Aufstandsgebiet, wurde der Reichstag aufgelöst. Es galt, bei den Neuwahlen, den Konservativen und Liberalen aller Schattierungen, die in der Minderheit der Regierung zur Seite gestanden hatten, die Mehrheit zu erobern.

Die kolonialpolitische Haltung des Zentrums und der Sozialdemokratie, vornehmlich der Versuch, dem Kaiser das Recht zu verkümmern, die Stärke der für die jeweilige Kriegslage in Südwestafrika notwendigen Truppenmacht kraft seiner verfassungsgemäßen Kommandogewalt zu bestimmen, waren an sich Grund genug, eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse durch Neuwahlen notwendig zu machen. Aber abgesehen von diesem unmittelbaren Anlaß schien mir und mit mir einer überwältigenden Zahl patriotischer Mitbürger eine Veränderung der parteipolitischen Konstellation, der parteipolitischen Machtverhältnisse durchaus erwünscht.

Man hat gesagt, wir seien 1907 gegen das Zentrum zu Felde gezogen und hätten gleichsam zufällig die Sozialdemokraten geschlagen. Das ist natürlich eine schiefe Auffassung. Wenn die Regierung Neuwahlen veranlaßt, so gilt es nicht eine Strafexpedition gegen eine einzelne Partei, sondern sie will eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse überhaupt erreichen. Die Kartellwahlen des Jahres 1887 verliefen nicht anders als die Blockwahlen zwanzig Jahre später. Aus beiden Wahlen ging das Zentrum ungeschwächt hervor. Beide aber erfüllten ihren Zweck durch die Zertrümmerung der anderen, dem Zentrum zurzeit verbündeten Oppositionspartei, damals der Freisinnigen, später der Sozialdemokratie. Der Kampf galt der oppositionellen Mehrheit als solcher. Dieser primären Aufgabe gegenüber war die Frage sekundär, durch Schwächung welcher der Oppositionsparteien die Dezimierung der Majorität erreicht wurde. Bei den Blockwahlen war mir die Schwächung der Sozialdemokratie erwünschter als ein entsprechender Mandatsverlust des Zentrums. Ich habe damals, und zwar aus eigener Initiative, für die Stichwahlen die Parole für das Zentrum gegen die Sozialdemokratie ausgegeben. Auf meine direkte Einwirkung hat der frühere Bürgermeister von Köln, Exzellenz Becker,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/90&oldid=- (Version vom 31.7.2018)