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und Negation verharren und von der Regierung in dieser Stellung belassen werden, verknöchern schließlich in ihren Programmsätzen und entziehen, solange sie nicht ganz absterben, dem lebendigen Körper unseres politischen Lebens wertvolle Kräfte. In eine solche Stellung war im Lauf der letzten Jahrzehnte auch gegenüber wichtigen nationalen Lebensfragen der linke Flügel unseres Liberalismus geraten. Die Aufgabe, den Freisinn national einzurangieren, mußte einmal in Angriff genommen werden. Sie wurde durch die Blockpolitik gelöst, und zwar über die Jahre ihres Bestandes hinaus bis auf diesen Tag, wo bei einer sehr erheblichen Armeevermehrung der Freisinn sich nicht ausschloß.

Die Blockpolitik.

Die Parteikonstellation, die mit einem dem Sprachschatz der französischen Parlamentarier entlehnten Ausdruck vielleicht nicht sehr glücklich als der „Block“ bezeichnet worden ist, war ein Vorgang nicht nur von hervorstechend typischer Bedeutung, sondern auch von aufklärendem Wert. Die Frage, ob die Blockära mehr als eine Episode war, möchte ich hier nicht funditus erörtern, schon weil ich ungern prophezeie. Daß zu einer, wenn nicht gleichen, so doch ähnlichen Lage die Ereignisse immer wieder hindrängen können, dürfte kaum zu bestreiten sein. Damit soll die Blockpolitik nicht als Universalmedizin für jede irgend vorkommende innerpolitische Situation empfohlen werden. Der begrenzten Dauer jener Kombination war ich mir immer bewußt, schon, weil ich die dauernde Ausschaltung des Zentrums nie in meine Rechnung gestellt hatte. Aber auf die wichtigsten Aufgaben unserer inneren Politik scheint mir von jener allzu kurzen Epoche aus ein besonderes Licht zu fallen. Diese wichtigsten Aufgaben sind mir und der großen Mehrheit meiner Mitbürger: die nationalen Fragen und der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Es gibt daneben gewiß noch eine Fülle anderer Aufgaben. Aber ihre Lösung kann die Lösung jener großen Aufgaben nie ersetzen. Tiefer gesehen und recht begriffen, ist unsere innere Politik im letzten Ende jenen beiden großen Fragen untergeordnet.

Es ist zu unterscheiden zwischen dem unmittelbaren Anlaß und den mittelbaren Ursachen, die zu der Kombination von 1907 geführt haben. Die Ereignisse, die die Reichstagsauflösung im Dezember 1906 notwendig gemacht hatten, sind noch in aller Erinnerung. Durch das Verhalten des Zentrums war eine unhaltbare Situation geschaffen, ein Entschluß der Regierung von mehr als nur vorübergehender Tragweite erforderlich geworden. Die Einmischungsversuche des Zentrums in die innere Kolonialverwaltung hatten allmählich einen Grad erreicht, der schon im Interesse der Disziplin nicht länger geduldet werden konnte. Die Forderung für die im Aufstandsgebiet gegen einen grausamen Feind unter schweren Entbehrungen heldenmütig kämpfenden Truppen wurde von Zentrum und Sozialdemokraten abgelehnt. Dazu kam endlich der Versuch, in die kaiserliche Kommandogewalt einzugreifen. Es ging um Staatsgrundsätze, die nicht preisgegeben werden dürfen. Eine Regierung, die in solchem Falle nicht die äußersten Mittel zum Schutz einzusetzen versteht, verdient den Namen nicht. Ich bin mir keinen Augenblick darüber im unklaren gewesen, welche Unbequemlichkeit darin lag, durch die Reichstagsauflösung mit einer so mächtigen und zähen Partei wie dem Zentrum zu brechen. Mein politisches Leben würde sich behaglicher gestaltet haben, wenn ich mich

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/89&oldid=- (Version vom 31.7.2018)