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beiden gemeinsam. Wie viele liberale Männer gibt es, die einzelnen konservativen Anschauungen durchaus zuneigen! Wie viele konservative Männer, die keineswegs allen liberalen Gedanken und Forderungen ablehnend gegenüberstehen! Alle diese Männer halten sich trotzdem keineswegs für politisch farblos und sind es auch nicht. Und was nun die Minister angeht, so pflegen sich die Parteiblätter in regelmäßigen Zwischenräumen darüber zu streiten, ob dieser oder jener Minister mit dem konservativen oder dem liberalen Stempel zu versehen sei, wobei gewöhnlich jede Partei die Mehrheit der Minister der Gegenpartei anzuhängen sucht. Die Wahrheit ist, daß die meisten Minister in Verlegenheit sein würden, auf die Frage, zu welchem Parteiprogramm sie sich bekennen, eine präzise Antwort zu geben.

Die Parteigegensätze allzusehr auf die Spitze zu treiben, ist nicht nur unberechtigt, sondern auch unpraktisch. Die Parteien pflegen nicht allzulange Arm in Arm zu gehen, und der Bund, den sie miteinander flechten, ist kein ewiger Bund. Sie kommen also, wenn sie mit den Freunden von gestern brechen und sich mit den Feinden von gestern versöhnen, am Ende in die peinliche Lage, die sorgsame Konstruktion grundsätzlicher Parteigegensätze mit derselben Mühe wieder abtragen zu müssen, die sie an ihren Aufbau gewandt haben. Das ist ungefähr so oft geschehen, wie die Zusammensetzung der Mehrheiten sich verändert hat.

Wären die Parteigegensätze wirklich so tiefgehend, so alle Einzelheiten des politischen Lebens durchdringend, wie es in den Zeiten des Parteihaders dargestellt wird, so müßte es bei der Vielheit unserer Parteien, deren keine bisher die absolute Mehrheit hatte, unmöglich sein, gesetzgeberische Arbeit zustande zu bringen. Nun ist aber tatsächlich während der letzten Jahrzehnte auf fast allen Gebieten der inneren Politik vielseitige und wertvolle Arbeit geleistet worden. Die Parteien haben sich der Reihe nach zur Verfügung gestellt und ihre früher scharf betonten Gegensätze oft mit erstaunlicher Plötzlichkeit überwinden können. Freilich werden dann andere Gegensätze um so schärfer betont. Das hält auch nur bis zur nächsten neuen Mehrheitsbildung vor, so daß in der Tat kein Grund vorliegt, die Gegensätze zwischen den Parteien gar so tragisch zu nehmen.


Die Regierung und die Parteien.

Als eine veränderliche Größe wird auch die Regierung die Parteigegensätze nehmen müssen. Freilich nicht nur als eine Größe, die in sich selbst veränderlich ist, sondern auch als eine Größe, auf deren Veränderung sich einwirken läßt. Auf die eingewirkt werden muß, wenn es das Interesse von Reich und Staat erfordert. Es ist nicht damit getan, die Mehrheiten zu nehmen, wo man sie findet und wie sie sich bieten. Die Regierung muß versuchen, sich für ihre Aufgaben Mehrheiten zu verschaffen.

Das Regieren mit wechselnden Mehrheiten, von Fall zu Fall, hat gewiß seine Vorteile und Annehmlichkeiten, aber es hat auch seine großen Gefahren. Ein Allheilmittel für alle politischen Lebenslagen ist es jedenfalls nicht. Man pflegt sich auf Bismarck zu berufen, der die Mehrheiten nahm, wo er sie fand. Wie den meisten Bezugnahmen auf Vorgänge der Ära Bismarcks fehlt auch dieser die Hauptsache, nämlich Bismarck selbst an der Spitze der Regierung. Er hielt die Führung so eisern in seiner Hand, daß

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/87&oldid=- (Version vom 31.7.2018)