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allen berechtigten Parteiforderungen suchen. Im Laufe längerer Amtsführung und im Verlauf wechselnder Aufgaben wird er dann natürlich nach und nach von allen Parteien befehdet werden. Das schadet aber nichts, wenn nur der Staat prosperiert. Den Vorwurf politischer Prinzipienlosigkeit habe ich niemals tragisch genommen, ich habe ihn gelegentlich sogar als Lob empfunden, denn ich erblickte darin die Anerkennung, daß die Staatsraison mein Kompaß war. Die politischen Prinzipien, denen ein Minister nachzuleben hat, sind eben ihrem Wesen nach ganz andere als die Grundsätze, die für einen Parteimann gelten, sie sind staatspolitisch, nicht parteipolitisch. Der Minister hat dem allgemeinen Interesse des Staates, des Volkes, die seiner Leitung anvertraut sind, Treue zu halten, ohne Rücksicht auf die Programme der Parteien, und wenn nötig im Kampf mit allen Parteien, auch mit derjenigen, der er selbst vielleicht mit der größeren Summe seiner politischen Anschauungen nahesteht. Prinzipienfestigkeit und Parteilosigkeit vertragen sich für einen Minister nicht nur, sie bedingen sich. Bismarck hatte eiserne Grundsätze und in ihrer Befolgung hat er unser Vaterland zur Einheit, zu Ruhm und Größe geführt. Er ist als Abgeordneter Parteimann gewesen, und hat dann als Minister von seiner alten Partei den Vorwurf des politischen Frontwechsels hören müssen. Er wurde ein Jahrzehnt später erneuter Meinungsänderung bezichtigt. Tatsächlich ist er niemals vom Wege zu seinem Ziel gewichen, denn sein Ziel war kein anderes, als dem deutschen Reich und Volk jeden möglichen Vorteil zu sichern und Segen zu gewinnen. Dies Ziel war auf dem Wege einer Partei nicht zu erreichen, denn das Interesse der Allgemeinheit deckt sich selten oder nie mit dem Interesse einer einzelnen Partei.

Allgemeingültige Maximen für eine bestmögliche Politik lassen sich nicht wohl aufstellen. Die politischen Ziele und die politischen Mittel wechseln mit den Verhältnissen, und man darf sich sklavisch an kein Vorbild, auch nicht an das größte, hängen. Soweit sich das mannigfache und bunte Leben auf eine kurze Formel bringen läßt, wäre sie für die Politik dahin zu fassen: Fanatisch, wo es um das Wohl und Interesse des Landes, um die Staatsräson geht, idealistisch in den Zielen, realistisch in der politischen Praxis, skeptisch, soweit die Menschen, ihre Zuverlässigkeit und Dankbarkeit in Betracht kommen.


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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/82&oldid=- (Version vom 31.7.2018)