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Die Partei, die regieren muß, ist nicht nur verantwortlich für ihr eigenes Wohlergehen, sondern in höherem Maße für Wohl und Wehe der Nation und des Staates. Partei- und Staatsinteresse fallen zusammen. Da es aber auf die Dauer nicht möglich ist, einen Staat einseitig nach irgendeinem Parteiprogramm zu regieren, wird die Partei, die an der Regierung ist, ihre Parteiforderungen mäßigen, um den maßgebenden Einfluß im Staat nicht zu verlieren. In der Aussicht, selbst regieren zu können und zu müssen, liegt für die Parteien in parlamentarisch regierten Ländern ein heilsames Korrektiv, das uns fehlt. In nicht parlamentarisch regierten Staaten fühlen sich die Parteien in erster Linie zur Kritik berufen. Sie fühlen keine nennenswerte Verpflichtung, sich in ihren Forderungen zu mäßigen, noch eine bedeutende Mitverantwortung für die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten. Da sie die praktische Brauchbarkeit ihrer Meinungen niemals urbi et orbi zu erweisen haben, genügt es ihnen meistens, die Unerschütterlichkeit ihrer Überzeugungen zu manifestieren. „Viel Überzeugung und wenig Verantwortlichkeitsgefühl“, so charakterisierte mir einmal ein geistreicher Journalist unser deutsches Parteileben und fügte hinzu: „Unsere Parteien fühlen sich ja gar nicht als die Schauspieler, die das Stück aufführen, sondern mehr als zuschauende Rezensenten. Sie teilen Lob, sie teilen Tadel aus, fühlen sich aber selbst an den Vorgängen eigentlich nicht unmittelbar beteiligt. Die Hauptsache ist, für die Wähler daheim ein kräftiges und möglichst willkommenes Urteil zu liefern.“

Als ich einmal während des Burenkrieges im Couloir des Reichstages einem Abgeordneten Vorstellungen wegen seiner Ausfälle gegen England machte, die nicht eben geeignet waren, unsere damals an sich schwierige Stellung zu erleichtern, erwiderte mir der treffliche Mann mit dem Brustton wahrer Überzeugung: „Als Abgeordneter habe ich das Recht und die Pflicht, den Gefühlen des deutschen Volkes Ausdruck zu geben. Sie als Minister werden hoffentlich dafür sorgen, daß meine Gefühle im Auslande keinen Schaden anrichten.“ Ich glaube nicht, daß eine solche Äußerung, deren Naivität mich entwaffnete, anderswo als bei uns möglich wäre.

Politischer Verstand und politisches Gefühl.

Wenn vor den Staatsinteressen rechtzeitig halt gemacht wird, ist an sich gegen Gefühlsäußerungen in der Politik gar nichts zu sagen. Sie gehören zu den Imponderabilien im politischen Leben, die ein Bismarck hoch bewertete. Das Volksempfinden hat gerade in Deutschland die vorgefaßten politischen Meinungen oft recht heilsam korrigiert. In der auswärtigen Politik sind Gefühle, Sympathien und Antipathien unzulängliche Wegweiser, und wir wären nicht weit gekommen, wenn unsere leitenden Staatsmänner bei Gestaltung der auswärtigen Beziehungen das Herz anstatt des Verstandes um Rat gefragt hätten. Auf dem Gebiet der inneren Politik liegt es anders. Gerade für uns Deutsche. Da könnte man versucht sein, dem Gefühl, dem gesunden politischen Empfinden größeren als den vorhandenen Einfluß zu wünschen, dem politischen Verstande geringeren. Denn die Wirkung unseres deutschen politischen Verstandes ist nicht Maßhalten in den parteipolitischen Wünschen, nicht Anpassung der politischen Forderungen an die gegebenen Tatsachen. Unser politischer Verstand drängt auf

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/78&oldid=- (Version vom 31.7.2018)