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haben uns, Gott sei Lob und Dank, niemals ganz gefehlt, und in den Zeiten größter nationaler Zerrissenheit ist das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit nicht nur nicht abgestorben, sondern zu leidenschaftlicher Sehnsucht angewachsen. Unsere schwächsten politischen Zeiten, die Zeiten offenbarsten staatlichen Verfalls haben uns gerade die Blütezeiten unseres nationalen Geisteslebens gebracht. Die Klassiker des Mittelalters wie die der neuen Zeit haben die deutsche nationale Literatur inmitten eines zerfallenden und zerfallenen nationalen staatlichen Lebens geschaffen. Andererseits hat unser Volk auch niemals das Bewußtsein für seine politische Zusammengehörigkeit und Selbständigkeit so weit verloren, daß es für längere Zeit fremde Herrschaft hätte tragen können. Gerade in der Not fanden die Deutschen in den Tiefen der deutschen Volksseele den Willen und die Kraft zur Überwindung der nationalen Spaltungen. Der Befreiungskampf vor hundert Jahren, der seine kleineren Vorbilder in vergangenen Jahrhunderten hat, wird ein ewiges Wahrzeichen deutschen nationalen Willens und nationalen Freiheitsdranges bleiben.

Aber im Gegensatz zu politisch glücklicher veranlagten Völkern sind die deutschen Äußerungen nationaler Einigkeit mehr gelegentlich als dauernd.

„Ich habe der Deutschen Juni gesungen,
Das hält nicht bis in Oktober,“

klagt Goethe nicht lange nach den Freiheitskriegen. Nur zu oft folgte bei uns auf die von der Not erzwungene Einigung wieder ein Auseinanderfallen in kleinere politische Verbände, Staaten, Stämme, Stände oder in neuerer Zeit Parteien, die ihre besonderen Aufgaben und Ziele den allgemeinen nationalen voranstellten und die vergangenen Großtaten nationaler Einigkeit zu einem Objekt häßlicher Fraktionskämpfe erniedrigten. In der deutschen Geschichte ist nationale Einigkeit die Ausnahme, der Partikularismus in seinen verschiedenen, den Zeitverhältnissen angepaßten Formen die Regel. Das gilt von der Gegenwart wie von der Vergangenheit.

Die Geschichte kaum eines Volkes ist so reich an großen Erfolgen und Leistungen auf allen Gebieten, die menschlicher Betätigung offenstehen. Deutsche Waffen- und Geistestaten haben nicht ihresgleichen. In der Geschichte keines Volkes aber steht jahrhundertelang der macht- und weltpolitische Fortschritt in so schreiendem Verhältnis zu Tüchtigkeit und Leistungen. Die Jahrhunderte unserer nationalen politischen Ohnmacht, der Verdrängung Deutschlands aus der Reihe der großen Mächte wissen vom Unterliegen deutscher Waffen unter fremde wenig zu melden, die Epoche Napoleons I. ausgenommen. Unser langes nationales Mißgeschick war nicht fremdes Verdienst, es war unsere eigene Schuld.

Als ein in hadernde Stämme zerspaltenes Volk sind wir in die Geschichte eingetreten. Das deutsche Kaiserreich des Mittelalters ward nicht gegründet durch die freie Einigung der Stämme, sondern durch den Sieg eines einzelnen Stammes über die anderen, die lange Zeit widerwillig die Herrschaft des Stärkeren anerkannten. Die Glanzzeit unseres nationalen Kaisertums, die Zeit, da das Deutsche Reich unumstritten die Vormacht in Europa übte, war eine Zeit nationaler Einigkeit, in der die Stämme und Herzöge am Willen und an der Macht des Kaisers die Grenze ihrer Eigenwilligkeit fanden. Das Kaiserreich des Mittelalters konnte im Kampf mit dem Papsttum nur deshalb erliegen, weil die

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/72&oldid=- (Version vom 31.7.2018)