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und plötzlich, sondern im Zuge der allmählichen Ausbreitung des Nationalbewußtseins. Der Fortschritt dieser Entwicklung ist maßgebend für den Fortschritt der nationalen Einigkeit und Geschlossenheit. Völker mit starkem politischen Sinn kommen dieser Entwicklung entgegen, der Deutsche hat sich oft gegen sie zur Wehr gesetzt. Nicht im bösen Willen, nicht aus Mangel an vaterländischem Gefühl, sondern seiner Natur folgend, die sich, gebunden an die kleinen Vereine, wohler fühlt, als eingeordnet in den weiten nationalen Verband. „Deutsche Parlamente“, sagte mir einmal in seiner kaustischen Art und als Ergebnis seiner 40jährigen parlamentarischen Erfahrung Herr von Miquel, „sinken meist nach verhältnismäßig kurzer Zeit auf das Niveau eines Bezirksvereins, den außer persönlichen Zänkereien nur Lokalfragen interessieren. In unseren Parlamenten hält sich eine Debatte selten länger als einen Tag auf der Höhe, am zweiten Tag tritt schon die Ebbe ein und dann wird über Miserabilitäten möglichst breit und wirkungslos geredet.“ Auf diesen Zug ins Einzelne und zum Besonderen ist auch die deutsche Vereinsmeierei zurückzuführen. Der oft gehörte Scherz, daß zwei Deutsche nicht zusammentreffen könnten, ohne einen Verein zu gründen, hat seinen ernsten Sinn. In seinem Verein fühlt sich der Deutsche wohl. Und wenn ein Verein größere Zwecke wirtschaftlicher oder politischer Natur verfolgt, so sehen seine Mitglieder und namentlich seine Führer in ihm bald den Punkt des Archimedes, von dem aus sie die ganze politische Welt aus den Angeln heben möchten. Der verewigte Abgeordnete von Kardorff sagte mir nicht lange vor seinem Tode: „Sehen Sie, welche Vereinsmeier wir sind. Der Verein wird uns Selbstzweck. Die ‚alliance française‘hat Millionen zusammengebracht, um französische Schulen im Ausland zu gründen, aber nie daran gedacht, der Regierung die Richtlinien ihrer Politik vorzuschreiben. Unser Alldeutscher Verband hat viel zur Belebung des Nationalgefühls getan, aber dafür betrachtet er sich auch als die höchste Instanz in Fragen der auswärtigen Politik. Der Flottenverein hat für die Popularisierung des Flottengedankens Großes geleistet, aber nicht immer der Versuchung widerstanden, Regierung und Reichstag die Wege der Flottenpolitik vorzuzeichnen. Der Bund der Landwirte, in einem Moment schwerer Bedrängnis der Landwirtschaft gegründet, hat dem Zusammenschluß der Landwirte eminente Dienste geleistet, ist jetzt aber so weit, daß er alles über seinen Leisten schlagen will und Gefahr läuft, den Bogen zu überspannen. Wir spinnen uns so sehr in die Idee unseres Vereins ein, daß wir außerhalb dieses Vereins nichts mehr sehen.“ Den Gesinnungsgenossen, den Interessengefährten im Kleineren findet der Deutsche leicht, den im Großen nur schwer. Je spezieller ein Zweck ist, desto schneller ist für ihn ein deutscher Verein gegründet, und zwar nicht für den Moment, sondern für die Dauer. Je allgemeiner ein Ziel, desto langsamer vereinigen sich die Deutschen zu seiner Erreichung, desto geneigter sind sie, von der mühsam gewonnenen Gemeinschaft schnell und kleiner Anlässe wegen wieder zu lassen.

Die politische Vergangenheit des deutschen Volkes.

Gewiß ist auch unser Volk starker und bewußter gemeinsamer nationaler Bewegungen in hohem Grade fähig. Die Geschichte kennt Beispiele die Fülle. Nationales Bewußtsein, nationale Leidenschaft und nationaler Opfermut

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/71&oldid=- (Version vom 31.7.2018)