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für ein endliches, festes und ehrliches Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis Raum gewinnen. Daß die Gefahr eines kriegerischen Zusammenstoßes zwischen Deutschland und England im Sommer 1911 nahegerückt schien, will keineswegs besagen, daß der bewaffnete Konflikt nur aufgeschoben, nicht aufgehoben sei. Es ist schon öfters dagewesen, daß die Diplomatie am Ende ihrer friedlichen Mittel und in die Notwendigkeit versetzt schien, der bewaffneten Macht die Fortführung der Auseinandersetzungen zu überlassen. Aber gerade die sichtbare Nähe dieses kritischen Momentes hat häufig genügt, die stockenden Verhandlungen wieder in Fluß zu bringen und zum friedlichen Ergebnis zu führen. Zu einem Ergebnis, das nicht nur für den Augenblick, sondern für die Dauer die gefährlichen Gegensätze beseitigt. Kriegswolken gehören zum Bilde des politischen Himmels. Aber die Zahl derer, die sich entladen, ist ungleich geringer als die Zahl der Wolken, die sich verziehen. Gleich schwere, wenn nicht schwerere Gefahren haben den Frieden zwischen England und Frankreich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts während der Juli-Monarchie bedroht und zeitweise auch in der Epoche des zweiten Kaiserreichs. Zwischen England und Rußland schien 1885 gelegentlich der Zuspitzung der afghanischen Frage der Krieg unvermeidlich. Alle diese bedrohlichen Wolken haben sich verzogen, ohne daß eine Entladung erfolgt wäre. Die Behandlung unserer Beziehungen zu England verlangt eine besonders feste und stetige Hand. Wir wünschen freundliche, ja freundschaftliche Beziehungen, aber wir fürchten die unfreundlichen nicht. Dem entsprechend muß sich Deutschland zu England stellen, das amtliche Deutschland sowohl wie die Nation selbst. Eine Politik des Nachlaufens ist so verfehlt wie eine Politik des Brüskierens. Das englische Volk, das politisch reifste aller Völker, würde sich durch keine noch so heiße Freundschaftsbeteuerungen von einmal als vorteilhaft erkannten Beschlüssen abdrängen lassen und in Freundschaftsbeweisen, denen nicht ein erkennbares Interesse zugrunde liegt, nur ein Eingeständnis unserer Schwäche sehen. Auf der anderen Seite ist ein stolzes und tapferes Volk wie das englische ebensowenig wie das deutsche durch offene oder versteckte Drohungen einzuschüchtern. Wir stehen heute, auf eine achtunggebietende Flotte gestützt, England gegenüber anders da, als vor 15 Jahren, als es galt, einem Konflikt mit England nach Möglichkeit so lange aus dem Wege zu gehen, bis wir unsere Flotte gebaut hatten. Damals stand unsere auswärtige Politik bis zu einem gewissen Grade im Dienst unserer Rüstungsfragen, sie mußte unter anormalen Verhältnissen arbeiten. Heute ist der normale Zustand wiederhergestellt: die Rüstung steht im Dienste der Politik. Die Freundschaft wie die Feindschaft des auf eine starke Flotte gestützten Deutschen Reichs haben heute für England naturgemäß einen anderen Wert als Freundschaft und Feindschaft des zur See ungerüsteten Deutschlands zu Ende der neunziger Jahre. Die Verschiebung des britisch-deutschen Kräfteverhältnisses zugunsten Deutschlands bedeutet für unsere auswärtige Politik England gegenüber eine große Entlastung. Wir brauchen nicht mehr darauf bedacht zu sein, sorgsam jede Verletzung unserer Sicherheit und Würde durch England zu verhüten, sondern wir dürfen, wie es deutscher Art gebührt, mit unserer Kraft für unsere Würde und unsere Interessen eintreten, England gegenüber zur See wie seit Jahrhunderten gegenüber den Mächten des Kontinents zu Lande. Wir müssen lange zurücksuchen in der deutschen Geschichte,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/62&oldid=- (Version vom 31.7.2018)