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Dienstzeit bezeichnet einen so hohen Grad des Rüstungsfiebers, daß sie vielleicht die Rückkehr zu normaler Temperatur einleiten wird. Wenn die Durchführung der dreijährigen Dienstzeit die Einkommensteuer nach sich ziehen sollte, so würde auch das zur Ernüchterung beitragen.

Bis dahin steht Frankreich gegen uns. Wiewohl es bemüht ist, militärisch den Nachteil auszugleichen, in den es durch seine geringere Bevölkerungszahl uns gegenüber versetzt ist, hat es doch nicht mehr das alte Zutrauen allein in die eigene Kraft. Die französische Politik sucht durch Bündnisse und Freundschaften ein Gleichgewicht oder womöglich ein Übergewicht gegen den deutschen Nachbarn zu gewinnen. Frankreich hat sich zu diesem Zweck eines Teiles der eigenen freien Initiative begeben müssen und ist abhängiger als früher von fremden Mächten geworden. Das ist den Franzosen natürlich bekannt und bewußt. Daß der reizbare französische Nationalstolz sich mit dieser Tatsache abfindet, zeigt, welches der alles beherrschende nationale Wunsch des französischen Volkes ist. Es ist kaum eine internationale Konstellation denkbar, die Frankreich veranlassen könnte, seine von der Erinnerung an 1870 inspirierte Politik einer grundsätzlichen Korrektur zu unterziehen.

Als wenige Tage nach dem Krüger-Telegramm wie in ganz Europa auch in Frankreich die Wogen der Burenbegeisterung hoch gingen, fragte ein englischer Minister nicht ohne Besorgnis einen französischen Diplomaten, ob Frankreich sich nicht versucht sehen könnte, an Deutschlands Seite zu treten. Die Antwort des Franzosen lautete: „Seien Sie überzeugt, daß, solange Elsaß-Lothringen deutsch ist, das französische Volk, was sich auch sonst ereignen möge, in Deutschland den permanenten, in jeder anderen Macht nur den akzidentiellen Gegner sehen wird.“

Faschoda.

Wie wenig den Franzosen Erfolge und Mißerfolge in der weiteren Welt neben dem Verlust an der europäischen Stellung Frankreichs bedeuten, zeigte auch der Verlauf und die Wirkung des Faschoda-Streites. Frankreich erlitt in diesem Streit gegenüber England eine unleugbare Niederlage, die auch sehr schmerzlich empfunden wurde. Faschoda bedeutete für Frankreich das Ende eines alten und stolzen kolonialpolitischen Traumes und ließ die französische Nation die britische überlegene Macht unerbittlich fühlen. Einen Augenblick brauste in Frankreich die öffentliche Meinung elementar auf und wandte sich jäh gegen England. Die große Masse derjenigen, die in der Politik das Vergängliche nicht vom Dauernden zu scheiden vermögen, den lauschenden Lärm des Aktuellen für den wahren Widerhall des Bedeutsamen nehmen, glaubte die Wendung der französischen Politik gekommen. Die Verstimmung gegen England sollte Frankreich an die Seite Deutschlands drängen, die Enttäuschung über den Mißerfolg im Sudan die Erbitterung über den Verlust Elsaß-Lothringens paralysieren, eine frische Hoffnung auf Vergeltung für Faschoda an die Stelle der alten auf Revanche für Metz und Sedan treten. Grundsätzlicher als durch solche Kombinationen konnte das Wesen der französischen Politik nicht verkannt werden. Ein Volk, das sich ein Menschenalter in eine Hoffnung, ein Ideal eingelebt hat, läßt sich nicht durch ein seitab vom großen Wege betroffenes Mißgeschick aus dem Geleis werfen. Der Haß gegen Deutschland konnte durch eine Verstimmung gegen England nicht berührt,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/59&oldid=- (Version vom 31.7.2018)