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unserem Ansehen in der Welt einen empfindlichen Stoß versetzen würde. Wir hatten in Marokko bedeutende und zukunftsreiche wirtschaftliche Interessen, die durch das französische Vorgehen schwer geschädigt wurden. Darüber hinaus standen unsere Würde und unsere neuerrungene weltpolitische Machtstellung auf dem Spiel. Die Ignorierung der Madrider Signatarmächte bei Abschluß des französisch-englischen Marokko-Abkommens bedeutete in specie eine Brüskierung des Deutschen Reichs. Mit England war Frankreich vertraglich im reinen, mit Spanien waren geheime Unterhandlungen im Gange, Rußland war nicht Signatarmacht, Italien ging im Mittelmeer seine eigenen Wege, den Vereinigten Staaten lagen die marokkanischen Angelegenheiten fern, ein Widerstand der kleineren Staaten Europas war ernstlich nicht zu besorgen. So waren nur Österreich und vor allen Dingen Deutschland offenbar beiseite geschoben. Wir standen vor einer bedeutungsvollen Wahl. Sollten wir uns bei einer wichtigen internationalen Entscheidung ausschalten, uns als Quantité négligeable behandeln lassen? Oder sollten wir die Berücksichtigung unserer Interessen und die Beachtung unseres Willens fordern? Die erstere Entscheidung wäre die bequemere gewesen, für die zweite sprachen nicht nur Ehrgefühl und Stolz, sondern auch unser wohlverstandenes Interesse. Ließen wir uns einmal ungestraft auf die Füße treten, so wäre dem ersten Versuch, uns schlecht zu behandeln, bald der zweite und dritte gefolgt.

Am 3. Juli 1900 hatte Kaiser Wilhelm II. das programmatische Wort gesprochen: „Ich bin nicht der Meinung, daß unser deutsches Volk vor 20 Jahren unter der Führung seiner Fürsten gesiegt und geblutet hat, um sich bei großen auswärtigen Entscheidungen beiseite schieben zu lassen. Geschähe das, so wäre es ein für allemal mit der Weltmachtstellung des deutschen Volkes vorbei, und ich bin nicht gewillt, es dazu kommen zu lassen.“ Die französische Marokkopolitik war ein unverhüllter Versuch, Deutschland bei einer großen auswärtigen Entscheidung beiseite zu schieben, der Versuch, die Machtverhältnisse in Europa einer Korrektur zugunsten Frankreichs zu unterziehen. Ein Präzedenzfall wäre geschaffen worden, der notwendig zu Wiederholungen hätte reizen müssen. Darauf durften wir es nicht ankommen lassen. In diesem Sinne wurde die Marokko-Frage für uns eine nationale Frage. Unserer Marokko-Politik waren die Wege gewiesen.

Am 31. März 1905 legte Seine Majestät der Kaiser auf meinen Rat in Tanger an, wo er mit unzweideutigen Worten für die Unabhängigkeit und Souveränität Marokkos eintrat. Damit war die Forderung Deutschlands nach Mitentscheidung der marokkanischen Angelegenheiten vor der Welt angemeldet. Es war erklärt, daß Deutschland an dem auf der Grundlage der Souveränität Marokkos abgeschlossenen internationalen Vertrag von 1880 festhielt und nicht geneigt war, ungefragt die durch das französisch-englische Marokko-Abkommen und das französische Vorgehen in Marokko geschaffene neue Lage anzuerkennen. Unser Ziel war, an Stelle der einseitig französisch-englischen Regelung der Marokko-Frage eine internationale durch die Madrider Signatarmächte zu setzen. Wir mußten auch verhindern, daß eine internationale Konferenz der französischen Marokko-Politik einfach ihr Plazet gab. Beides ist durch das Zustandekommen und die Beschlüsse der Algesiraskonferenz erreicht worden. Frankreich setzte dem Konferenzplan heftigen Widerstand entgegen. Eine Zeitlang schien es, als wolle Herr

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/56&oldid=- (Version vom 31.7.2018)