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immer bestrebt bleiben, höfliche, ruhige und friedliche Beziehungen zu Frankreich aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus aber sollten wir keinen Phantasmen nachjagen, sonst könnte es uns gehen, wie dem Astronomen bei Lafontaine, der, während er nach den Sternen blickte, in das Loch fiel, das vor seinen Füßen lag und das er nicht gesehen hatte. Das Loch heißt in diesem Falle Le trou des Vosges. Wir sollten uns auch Frankreich gegenüber von Aufmerksamkeiten und Liebenswürdigkeiten, der petite monnaie des internationalen Verkehrs nicht allzuviel versprechen. Das aussprechen heißt dem stolzen Patriotismus eines großen Volkes ein Lob spenden. Der Groll gegen Deutschland sitzt zu tief in den französischen Herzen, als daß wir ihn durch billige Freundschaftsbezeigungen beseitigen könnten. Niemals ist Frankreich, auch nicht nach den katastrophalen Niederlagen der Jahre 1812 bis 1815, so hart getroffen worden wie durch den Krieg von 1870/71. Für die Tatsache, daß uns Deutschen nationale Notwendigkeit gewesen ist, was den Franzosen als brutale Härte des Siegers erscheint, finden wir in Frankreich kein Verständnis. Vielleicht wird sich das französische Volk im Laufe der Zeit den Bestimmungen des Frankfurter Friedens fügen, wenn es erkennen muß, daß sie unabänderlich sind. Solange Frankreich aber eine Möglichkeit zu erkennen glaubt, durch eigene Kraft oder fremde Hilfe Elsaß-Lothringen wieder an sich zu bringen, wird es im gegenwärtigen Zustande ein Provisorium, nicht ein Definitivum sehen.

Die Franzosen haben das Recht, für diese Grundstimmung der Mehrheit des französischen Volkes Verständnis zu beanspruchen. Es ist ein Beweis lebhaften Ehrgefühls, wenn eine Nation so tief unter einer einmal erlittenen Kränkung ihres Stolzes leidet, daß der Wunsch nach Vergeltung zur beherrschenden nationalen Leidenschaft wird. Wohl ist es richtig, daß Frankreich durch Jahrhunderte den Geist der Unruhe in die europäische Geschichte getragen hat. Wir mußten uns durch eine nachhaltige Verstärkung unserer Stellung gegen Westen vor neuen Störungen unseres Friedens sichern. Das Mittel hat tatsächlich auch nicht ganz versagt, zum Nutzen nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas. Aber der Franzose sieht die Dinge mit anderen Augen an. Die Politik ruhmvoller Abenteuer, die Europa oft die Ruhe genommen und die Nachbarn Frankreichs wiederholt zu den letzten äußersten Kraftanstrengungen gezwungen hat, ist für Frankreich die eigene große Vergangenheit, die den eigentümlichen nationalen Ehrgeiz der Franzosen am großartigsten und ursprünglichsten zum Ausdruck gebracht hat. Die französische Geschichte unterscheidet sich von der deutschen unter vielem anderen auch darin, daß sie in den größten, in jenen dramatischen Momenten, wo sich die Schicksale der Völker entscheiden, von französischen Eroberungskriegen zu erzählen hat, während in der deutschen Geschichte die Taten nationaler Verteidigung die schönsten Ruhmesblätter sind. Eben die Zeiten eines Ludwig XIV., eines Napoleon I., deren Wiederkehr wir verhindern wollen und gegen die wir uns durch eine Verstärkung unserer Grenzen gegen Frankreich sichern mußten, sind für viele Franzosen und in bewegten Momenten für die ganze Nation das Ziel nationaler Sehnsucht. Das durch die Ereignisse von 1866 und 1870 erstarkte Deutschland hat alle seine neue Kraft auf den Ausbau des eigenen nationalen Lebens gewandt. Frankreich ist nach jeder Erstarkung seiner nationalen Macht aggressiv nach außen aufgetreten und würde es wieder tun, wenn es sich Erfolg versprechen könnte. Damit müssen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/52&oldid=- (Version vom 31.7.2018)