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sind keiner Kolonialmacht in ihren Kindheitsjahren erspart geblieben. Im Gegenteil: alle übrigen Kolonialländer haben erheblich größere Opfer an Gut und Blut bringen müssen, als wir. Wir haben Lehrgeld zahlen müssen, aber schließlich kein zu hohes gegenüber dem bleibenden Gewinn, den uns die Kolonien gebracht haben und hoffentlich in noch gesteigertem Maße bringen werden. Sie haben den Gesichtskreis des deutschen Volkes erweitert, indem sie noch intensiver, als dies unser Außenhandel vermochte, den Blick aller Berufsstände unseres Volkes über das Meer lenkten. Unsere Kolonialpolitik hat im Verein mit dem Ausbau unserer Flotte aus der Kontinentalmacht eine Weltmacht geschaffen. Durch unseren Kolonialbesitz ist ferner überseeische Betätigung auf deutschem Grund und Boden ermöglicht worden. Ihm haben wir es zu danken, daß von den Tausenden, welche noch immer jährlich das Vaterland verlassen, wenigstens ein – wenn auch nur kleiner – Prozentsatz durch Niederlassung auf deutscher Erde dem Deutschtum dauernd erhalten wird.

Ideeller Nutzen der Kolonien für das deutsche Volk.

Unsere Kolonien haben aber auch ihr Teil dazu beigetragen, uns bis zu einem gewissen Grade vor Verweichlichung und Materialismus zu bewahren. Denn die Pionierarbeit drüben, wenn sie von Erfolg gekrönt sein soll, erfordert einen ganzen Mann, der Furcht nicht kennt, sich vor keiner Arbeit scheut und überall selbst mit zugreift, der Strapazen, Hunger und Durst erträgt, ohne mit der Wimper zu zucken. Hierin haben es unsere braven Kolonialkrieger allen voran getan! . . Sie haben uns den handgreiflichen Beweis geliefert, daß trotz der langen Friedenszeit der Geist, der unser Volk vor 100, 50 und 40 Jahren beseelte, noch nicht geschwunden ist, wie sehr auch dagegen anzustürmen versucht wird. Aber kaum weniger als die Kolonialkriege härtet die koloniale Friedensarbeit ab und stählt den Charakter; das ist der große moralische Nutzen, den wir aus unseren Kolonien ziehen. Aber nicht nur in ideeller, auch in materieller Beziehung versprechen die Kolonien ein immer größerer Gewinn für unser Vaterland zu werden.

Bedeutung der Kolonien für Handel, Industrie und Landwirtschaft.

Denn seit der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts können die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen unserer Kolonialpolitik als so gesund betrachtet werden, und befinden sich die Schutzgebiete in einem so anhaltenden Aufschwung, daß eine ruhige stetige Weiterentwickelung völlig gesichert erscheint, insofern sie nicht durch äußere Erschütterungen gestört wird. Sie kann durch Fehler und Mißgriffe wohl vorübergehend beeinträchtigt und verlangsamt, aber kaum mehr ernstlich gefährdet werden. Ganz besonders wichtig ist der Erwerb unserer Kolonien für unseren Handel und unsere Industrie. Denn mit der weiteren Erschließung und wirtschaftlichen Entwickelung, mit der Zunahme der Bedürfnisse der Eingeborenen und ihrer Kaufkraft, mit dem Wachsen der weißen Bevölkerung wird die Bedeutung derselben als Absatzmärkte sich nach menschlicher Voraussicht so heben, daß Handel und Industrie große Vorteile aus ihnen ziehen werden. Dies ist um so freudiger zu begrüßen, als sich unverkennbar bei anderen Kolonialmächten immer mehr das Bestreben geltend macht, ihre Kolonien ausschließlich für ihren eigenen Absatz nutzbar zu machen. Von noch größerer Bedeutung dürften sie

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/464&oldid=- (Version vom 12.12.2020)