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und der britisch-französische Vertrag über Ägypten und Marokko im Jahre 1904 ließ die Erinnerung an Faschoda völlig in den Hintergrund treten. Rußland hatte sich unter der Nachwirkung der schweren Niederlagen, die es im Krieg mit Japan zu Lande und zu Wasser erlitten hatte, und schwerer innerer Unruhen zu einer Abmachung mit England über die Interessensphären in Asien entschlossen und damit England genähert. Italien wurde mit Eifer umworben. Ähnliche Bemühungen gegenüber Österreich-Ungarn scheiterten gelegentlich der Monarchenzusammenkunft in Ischl an der unerschütterlichen Bündnistreue des greisen Kaisers Franz Joseph. In Algesiras hatten wir einen schwierigen Stand, obwohl Deutschlands Politik das eigene nationale Interesse als Glied der allgemeinen internationalen Interessen gegen die von England gestützten französischen Ansprüche vertrat. Die Einkreisungspolitik schien damals in der Konstellation der Mächte äußerlich standzuhalten, wiewohl durch das Zustandekommen der Konferenz überhaupt und ihre wichtigsten Beschlüsse die Absichten der deutschen Politik mit Bezug auf Marokko im wesentlichen erreicht worden waren. Es war nun die Frage, wie das Ententensystem auf dem Gebiete der eigentlichen europäischen Politik bestehen würde.

Die bosnische Krise.

Die endgültige Einverleibung der Provinzen Bosnien und Herzegowina, die Österreich gemäß den Bestimmungen des Berliner Kongresses seit 1878 besetzt hielt, in das österreichisch-ungarische Staatsgebiet führte eine große europäische Krise herauf. Rußland widersetzte sich dem österreichischen Vorgehen. Im Vertrauen auf den scheinbar unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Austrag der alten österreichisch-russischen Balkanrivalität glaubte Serbien, das seine großserbischen Pläne durchkreuzt sah, gegen die Donaumonarchie zum Kriege rüsten zu dürfen. England stellte sich auf die russische Seite und die von der englischen Presse geführte Sprache klang fast leidenschaftlicher als die Stimmen, die uns aus Rußland entgegenschallten. Die Spitze der englischen Politik schien sich weniger gegen Österreich als gegen das mit Österreich verbundene Deutschland zu richten. Es war das erstemal, daß das deutsch-österreichische Bündnis vor einem schweren Konflikt seine Haltbarkeit und Stärke erweisen sollte. Ich ließ in meinen Reichstagsreden keinen Zweifel, daß Deutschland entschlossen sei, unter allen Umständen am Bündnis mit Österreich-Ungarn festzuhalten. Das deutsche Schwert war in die Wagschale der europäischen Entscheidung geworfen, unmittelbar für unseren österreichisch-ungarischen Bundesgenossen, mittelbar für die Erhaltung des europäischen Friedens und vor allem und in erster Linie für das deutsche Ansehen und die deutsche Weltstellung. Die Stunde war da, die zeigen mußte, ob Deutschland durch die Einkreisungspolitik wirklich mattgesetzt war, ob die in den Kreis der antideutschen Politik gezogenen Mächte es mit ihrem europäischen Lebensinteresse vereinbar finden würden, feindlich gegen das Deutsche Reich und seine Verbündeten aufzutreten oder nicht. Der Verlauf der bosnischen Krise wurde tatsächlich das Ende der Einkreisungspolitik. Keine Macht zeigte Lust, die eigenen europäischen Interessen fremden weltpolitischen Interessen unterzuordnen und die eigenen Knochen für andere zu Markt zu tragen. Die sehr überschätzte Konstellation von Algesiras zerbarst an den handfesten Fragen der Kontinentalpolitik. Italien blieb an der Seite seiner Verbündeten, Frankreich verhielt sich abwartend

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/43&oldid=- (Version vom 31.7.2018)