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Das Heerwesen[1]
Von v. Bernhardi, General der Kavallerie z. D.


Geographische Lage und wirtschaftliche Entwickelung Deutschlands.

Die Geschicke Deutschlands werden wesentlich durch seine geographische Lage bestimmt. Im Osten brandet die Flut der slawischen Völker gegen seine offene Grenze. Im Norden ist der Ostsee die skandinavische Halbinsel, der Nordsee England vorgelagert. So werden die Ausgänge zum Weltmeer durch fremde Völker beherrscht. Im Westen begrenzen das feindliche Frankreich, im Nordwesten Holland und Belgien das Deutsche Reich; im Süden ist es durch hohe Gebirgszüge vom Mittelmeer geschieden und im Südosten stößt es an Österreich-Ungarn, das seinerseits von den südslawischen Völkern bedrängt wird, die zugleich zahlreich innerhalb seiner Grenzen wohnen. Solange es, seit dem Zerfall des Carolingischen Reiches, ein eigentliches Deutschland gibt, hat das deutsche Volk fortgesetzt nach den verschiedensten Richtungen hin kämpfen müssen, um sich feindlicher Angriffe zu erwehren und seine Grenzen zu erweitern. So ist unter Schwertschlag und Kampfgewühl, nach schweren Niederlagen und glänzenden Siegen das heutige Deutsche Reich entstanden; aber auch heute noch steht es unter dem Einfluß seiner geographischen Lage. Als Kaiser Wilhelm II. den Thron bestieg, war es allerdings der Staatskunst Bismarcks gelungen, die in ihr begründeten Gefahren wesentlich abzuschwächen. Mit Österreich und Italien war Deutschland durch ein Bündnis geeinigt, das bei feindlichem Angriff die gemeinsame Abwehr bezweckte, und mit Rußland bestand eine Vereinbarung, nach der sich beide Staaten, falls der eine von ihnen angegriffen würde, Neutralität zusicherten. Zugleich waren die Beziehungen mit England freundliche. So war es gelungen, Frankreich vorläufig zu isolieren. Der tiefe nationale Gegensatz zwischen Deutschen und Slawen war dadurch jedoch nicht beseitigt. Das Mißtrauen Rußlands gegen die deutsche Politik hatte zeitweise bedenkliche Formen angenommen, und nur allzubald sollte der zwischen beiden Reichen bestehende Gegensatz auch seinen politischen Ausdruck finden. Jedenfalls war es klar, daß Deutschlands Machtstellung vor allem auf seiner militärischen Kraft beruhe, die es seinen Verbündeten wertvoll und seinen Feinden furchtbar macht.

Zugleich hatte die Entwickelung des deutschen Volkes in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht seit den Einigungskriegen einen mächtigen Aufschwung genommen und


  1. Die Zahlenangaben sind größtenteils dem ausgezeichneten Buch des Oberstleutnant a. D. Freiherrn v. Osten-Sacken „Kaiser Wilhelm und sein Heer“ entnommen.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 361. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/377&oldid=- (Version vom 4.8.2020)