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der Gewohnheit erklärt, wenn man den alten Ausdruck noch beibehält. Was früher so hieß, deckte sich in der Hauptsache mit der alten Lehre von der – privatrechtlichen – Statutenkollision, und wie Friedrich Meili, der verdiente schweizerische Vorkämpfer für Modernisierung des internationalen Privatrechts überzeugend dargetan hat, ist die gemeinrechtliche Lehre über die alte (von Bartolus herrührende, daher auch als bartolinische Lehre bezeichnete) Statutentheorie nicht hinausgekommen. In den jüngst verflossenen Jahrzehnten aber ist die Wissenschaft zu der Erkenntnis gekommen, daß diese Lehre nur ein kleiner Ausschnitt aus Problemenreihen größten Stiles ist. Man hat vor allem erkannt, daß die Probleme, welchen man zunächst auf dem Gebiet des Privatrechts begegnet war, und deren Gegenstand man deswegen als internationales Privatrecht bezeichnet hatte, durch das gesamte Gebiet des öffentlichen Rechtes (mit Ausnahme vielleicht – aber auch nur vielleicht – des Völkerrechtes) hindurchgehen. Am frühesten bemerkte man dies für das Strafrecht (daher auch Böhms „Zeitschrift für internationales Privat- und Strafrecht“). Aber sehr bald mußte man auch darauf aufmerksam werden, daß das Prozeßrecht (Straf-, Zivil-, Konkurs-Prozeß) entsprechende Erscheinungen und Probleme bietet. Und zuletzt (besonders ist es Karl Neumeyers Verdienst, dieses Gebiet aufgeklärt und gefördert zu haben) wurde entdeckt, daß das Staats- und Verwaltungsrecht eine Fülle gleichartiger Probleme enthält, so daß man neben dem internationalen Privatrecht im alten Sinn nicht nur von internationalem Straf-, Prozeß-, Verwaltungs-, sondern auch von internationalem Schulrecht, internationalem Finanzrecht, internationalem Arbeiterversicherungsrecht spricht. Wissenschaftliche und praktische Aufgaben von unübersehbarem Umfang und von ebenso großem wissenschaftlichem Reiz wie von praktischer Wichtigkeit sind hiermit gegeben. Ganze Provinzen des internationalen Rechtslebens harren hier noch der wissenschaftlichen Pflugschar. Als leicht verständliche Beispiele seien hier die Fragen der Staatsangehörigkeit der Personen, der Nationalität der Schiffe, der militärischen Dienstpflicht, des Geschworenendienstes, der Steuer-, Schul-, Versicherungspflicht im Ausland, die Fragen der Weltausstellungen, der wissenschaftlichen Expeditionen, der Kriminalpolizei auf hoher See genannt.

Völkerrechtliche Seite.

Daß diese Fragen auch eine völkerrechtliche Seite haben, ist keine Eigentümlichkeit gegenüber den früher erörterten Fragen. Denn jedes Problem des internationalen Privatrechts, auch im alten Sinn, hat eine völkerrechtliche Seite. Alle diese Fragen – um es allgemeinverständlich zu sagen – können durch völkerrechtliche Verträge geregelt werden. Sie finden auf diese Weise meist ihre beste Lösung. Und das ist die tief in der Sache begründete Folge ihrer Natur. Denn abgesehen von dem auf einem anderen Blatt stehenden sog. interlokalen Privatrecht, das die Rechtsverschiedenheiten innerhalb eines Staates betrifft, ist alles internationale Privatrecht dem Maßstab des Ausgleiches internationaler Divergenzen unterworfen. Dies ist auch dann zutreffend, wenn der Ausgleich zunächst mißlingt. Wie die noch nicht gelösten Probleme des Völkerrechts neben den bereits gelösten den Gegenstand der Völkerrechtswissenschaft bilden, so sind auch die Diskrepanzen des

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/366&oldid=- (Version vom 4.8.2020)