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Eine Reihe positiver, von Kaiser Wilhelm II. gegebener Anregungen und Förderungen der internationalen Beziehungen (Austausch-Professoren, Oxford-Stipendien usw.), besonders aber das vorbildlich wirkende Interesse und weitschauende persönliche Verständnis des Kaisers für die internationale Kulturgemeinschaft der Völker und für die Interessensolidarität der Staaten haben in Deutschland jenen Sinn für die internationalen Beziehungen, welcher in den kaufmännischen und technischen Berufen längst vorhanden war, auch im deutschen Juristenstande allmählich erweckt. Kaum irgendwo ist das so schwierig gewesen und so langsam gegangen, wie bei den Juristen. Aber auch hier hat der Funke endlich gezündet.

II. Weit stärker und wichtiger als die soeben angedeutete durchschnittliche Zunahme des Interesses und des Verständnisses der juristischen Praxis gegenüber den Aufgaben des internationalen Privatrechtes ist nun aber der innere und positive Entwicklungsfortschritt, welchen in den letzten 25 Jahren die Wissenschaft des internationalen Privatrechts in Deutschland gemacht hat.

Internationalisten und Positivisten.

Der in den 90er Jahren entbrannte Streit der Internationalisten (Bar, Neumann u. a.) und der Positivisten (Niemeyer, Kahn u. a.) im internationalen Privatrecht hatte den Sinn, daß die letzteren (sich mehr an Wächter anlehnend) als Ausgangspunkt für die Lösung der Fragen des internationalen Privatrechts die einzelne (innerstaatliche) Rechtsordnung nahmen, während die ersteren (mehr Savigny folgend) von vornherein von einem völkerrechtlichen (überstaatlichen) Standpunkt ausgingen. Der Streit war theoretischer und prinzipieller Natur und hätte leicht zu tiefgreifenden praktischen Spaltungen führen können. Dies geschah indessen nicht. Vielmehr bemerkten Positivsten und Internationalisten bald genug, daß sie vermittelst verschiedener Formulierung praktisch zu dem gleichen Ergebnis kamen. Beide Gruppen gelangten zu dem Ergebnis, daß im heutigen Rechtsleben kein Staat die internationale Kulturgemeinschaft ignorieren und deswegen auch kein Staat die Idee internationaler Rechtsgemeinschaft ablehnen kann. Dabei betonen die Internationalisten mehr den unausweichlichen inneren Druck der internationalistischen Forderungen. So sagt Bar: „Das internationale Privatrecht ist in seiner Existenz nicht abhängig davon, daß die Grundlagen durch Staatsverträge oder Gesetze festgesetzt seien. Es besteht, weil es notwendig ist, durch den Zwang der Verhältnisse, durch die Natur der Sache.“ Die Positivisten dagegen betonen, daß die Geltung jener Prinzipien auf der aufgeklärten Erkenntnis und dem autonomen Willen der einzelnen Staaten beruht. Hinsichtlich des Inhalts jener Prinzipien aber brauchten deswegen Positivisten und Internationalisten durchaus nicht verschiedener Meinung zu sein. Tatsächlich hat sich freilich herausgestellt, daß die vorhandene Verschiedenheit der theoretischen Grundauffassung doch auch die Stellungnahme in einzelnen positiven Fragen des internationalen Privatrechts beeinflußt. So z. B. stehen in der Frage der Rückverweisung (Art. 27 EG. z. BGB.) die Positivisten und die Internationalisten in getrennten Lagern.

Eine Vereinigung der Auffassungen (auf unverkennbar positivischer Basis) in

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/364&oldid=- (Version vom 4.8.2020)