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ihnen vorgelegter Rechtsfall nicht nach dem eigenen (d. h. dem von ihnen gekannten) sondern vielmehr nach ausländischem, und nach welchem ausländischen Rechte zu beurteilen sei. Dieser Frage suchte die frühere deutsche Rechtsprechung auf jede mögliche Weise auszuweichen. Unverkennbar herrschte das Bestreben, in allen international gelagerten Fällen schließlich doch zur Anwendung des ‚eigenen‘ Rechtes, der lex fori, zu gelangen, sei es nach der Wächterschen Regel: in dubio lex fori, sei es gestützt auf die Vorschrift der deutschen Zivilprozeßordnung, wonach der deutsche Richter nur das Recht seines Staates zu kennen braucht, sei es nach der Formel, die Anwendung ausländischen Rechtes sei durch inländische Prohibitivsätze („ordre public“) ausgeschlossen, sei es endlich gemäß der „präsumtiven“ Intention der Parteien beim Vertragsschluß, oder deswegen weil die Parteien im Prozeß die Maßgeblichkeit ausländischen Rechtes nicht behauptet oder die dieselbe anrufende Partei den Inhalt des fremden Rechtes nicht nachgewiesen habe. Eine geheime Kunstlehre über die Frage, auf welche Weise der deutsche Richter es am besten erreichen könne, der Anwendung ausländischen Rechtes zu entgehen, hätte zu gewisser Zeit vielleicht nicht bloß Erfolge der Heiterkeit erlebt. Jhering hat einmal in geistreichem Sarkasmus herausgefunden, von allen Akademikern, die ein Schiffbruch an fremdsprachiges Gestade werfen würde, sei der Jurist der hilf- und nutzloseste. Daran ist etwas Wahres, namentlich aber für jene Zeiten, da die deutschen Juristen nur die deutsche Rechtssprache verstanden. Französisches Recht kannten nur die Linksrheinländer. Englisch-amerikanisches Recht war die Domäne Auserwählter. Die Fülle romanischen und modernen Rechtsstoffes, wie sie sich in den zahlreichen Gesetzbüchern Mittel- und Südamerikas darbietet, existierte für die deutschen Juristen ebensowenig wie die slawischen Rechtsordnungen, und das eine Welt für sich bildende Recht der Mohammedaner.

Das ist in den letzten 25 Jahren einigermaßen anders geworden.

Wachsen des Sinnes für fremde Rechtsgedanken.

Mit der Abkehr von der reinen Begriffsjurisprudenz, mit dem Verständnis für das Recht als Kulturerscheinung (Kohler), mit der Würdigung seiner Beziehung zu den allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ist auch der Sinn für Rechtsvergleichung, für die Anerkennung fremder Rechtsgedanken und für die Zulassung fremder Rechtsordnungen bei uns eingekehrt. Es hat sich tatsächlich bei den deutschen Juristen mehr und mehr der Trieb und die Gewohnheit eingestellt, ausländische Verhältnisse, ausländische Sprache, ausländisches Recht kennen zu lernen. Die Zahl der in Paris, Grenoble, Lausanne und Genf, in Oxford oder Cambridge, an der Harvard-Universität oder in Rom studierenden deutschen Juristen ist nicht mehr ganz gering. Die heranwachsende Generation wandelt neue Bahnen.

Die politische Entwickelung des Deutschen Reiches hat dazu das Beste und Entscheidende getan. Der wachsende Wohlstand in Deutschland hat mitgeholfen. Die Erhaltung des Friedens, die Mehrung des Reiches an überseeischen Beziehungen, an internationaler Geltung und an internationalen Aufgaben jeder Art mußte auch die internationale Erstreckung des Rechtsgedankens fördern.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/363&oldid=- (Version vom 4.8.2020)