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die auf den Straßen postiert sind, eine strafbare Übertretung polizeilicher Vorschriften, die vor ihren Augen geschieht, ignoriert oder es bei einer Warnung belassen. Bei mancher Übertretung, wie bei grobem Unfug und ruhestörendem Lärm, weist schon die allgemeine Fassung der Strafbestimmung auf ein derartiges verständiges Abwägen der Umstände des einzelnen Falles und auf ein taktvolles Beurteilen hin, ob hiernach die Verfolgung am Platze ist. Sachgemäß hatte bereits der Entwurf des Bundesrats diese der Staatsanwaltschaft gegebene Befugnis, die Verfolgung von Übertretungen wegen Geringfügigkeit zu unterlassen, für den Fall ausgeschlossen, daß ein durch die Übertretung Verletzter die Verfolgung beantragt. Mit Recht ist denn auf Vorschlag der Reichstagskommission die Beantragung der Verfolgung nicht bloß dem Verletzten, sondern jedem eingeräumt, der ein berechtigtes Interesse an der Verfolgung hat. Volle Zustimmung verdient meines Erachtens auch die Einschränkung des Verfolgungszwanges der Staatsanwaltschaft, die der Entwurf weiterhin durch Ausdehnung der Privatstrafklage auf eine Reihe leichterer Vergehen und die gleichzeitige Bestimmung bewirkt, daß bei diesen die öffentliche Strafklage von der Staatsanwaltschaft nur zu erheben ist, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt.

Von den politischen Bestimmungen, welche die Reichstagskommission verlangt, der Bundesrat aber abgelehnt hat, ist gegen die erste, die es den Gerichten verbieten will, an Zeugen Fragen zu stellen, die das Wahlgeheimnis berühren, bei der Debatte in der Kommission mit Recht eingewandt worden, daß solche Fragen in gerichtlichen Untersuchungen wegen Wahlfälschung oder Wahlbestechung unbedingt nötig seien. Die anderen Vorschläge verlangen persönliche Privilegien für Abgeordnete. Solche sind im Wege einer Änderung der Verfassung zu erstreben. Es ist meines Erachtens nicht angängig und nicht des Parlaments würdig, wenn es die Gewährung von Privilegien an seine Mitglieder als Bedingung seiner Zustimmung zu Justizreformen aufstellt, die im Interesse der Allgemeinheit geschehen sollen. Auf keinen Fall könnte den Abgeordneten ein Zeugnisverweigerungsrecht gewährt werden über Mitteilungen, die sie als Abgeordnete erhalten haben und über die Personen, von denen ihnen die Mitteilungen gemacht worden sind. Es ist dem Staatsminister Grafen von Posadowsky vollauf zuzustimmen, wenn er in der DJZ. 1911 S. 1298 ff. ausführt, daß man damit eine Immunität des geheimen Denunziantentums schaffen würde.

Im übrigen sind sämtliche Einzelbestimmungen des Entwurfs, wie er nach der gründlichen Beratung in der Reichstagskommission vor uns liegt, durchweg wertvolle Verbesserungen.

Hoffnung auf eine großzügige Reform.

Gemäß den vorstehenden Ausführungen glaube ich, die Hoffnung aussprechen zu dürfen, daß sich auf dem Boden so langjähriger treuer und tüchtiger Arbeit demnächst durch verständige Vermittelung zwischen noch voneinander abweichenden Rechtsanschauungen eine umfassende großzügige und für die Strafrechtspflege segensreiche Reform unseres Strafprozesses wird aufbauen lassen!

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/332&oldid=- (Version vom 4.8.2020)