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vorhanden, so ist es etwas Halbes, wenn der Bundesrat die Schöffen nur in 1. Instanz und nicht auch in der Berufungsinstanz zuziehen will. Soll die Mitwirkung von Laien doktrinäre – am Buchstaben des Gesetzes klebende – Strafurteile verhüten oder jedenfalls die Befürchtung des Volkes, daß ein nur mit gelehrten Richtern besetztes Gericht zu solchen Urteilen geneigt sei, heben, so muß sie, wie für die 1., auch für die 2. Instanz gelten. Die Aufhebung eines von einem Schöffengericht oder einer Schöffenstrafkammer erlassenen Urteils durch ein nur aus gelehrten Richtern bestehendes Berufungsgericht könnte im Volke gar zu leicht der Auffassung neue Nahrung geben, daß in der Beurteilung von Strafsachen eine Kluft zwischen den Anschauungen der gelehrten Richter und der mitten im Leben und Verkehr stehenden Laien bestehe und auf diese Weise das, was man durch die Zuziehung von Laien zu den Strafgerichten verhüten will, erst recht fördern. Die früher geltend gemachte Befürchtung, daß es in manchen Bezirken mit undichter Bevölkerung, vor allem in den östlichen Landesteilen Preußens, an einer für zwei Instanzen ausreichenden Zahl von Personen, die als Schöffen berufen werden könnten, fehle, dürfte dadurch, daß nunmehr den Schöffen Reisekosten und Tagegelder bewilligt sind, gehoben sein. Die Vertreter der Bundesregierungen haben denn auch im Reichstag ihre übrigens von der bayrischen Regierung nicht geteilten Bedenken gegen die Zulassung von Laien in den Berufungsgerichten jetzt weniger hierauf, als auf die besondere Art der richterlichen Tätigkeit in der Berufungsinstanz gestützt. Ich vermag diesen Unterschied nach der Art, wie der Entwurf das Verfahren in der Berufungsinstanz geregelt, insbesondere eine völlige nochmalige mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgerichte vorgesehen hat, nicht in dem behaupteten Maße anzuerkennen. Allerdings werden die Entscheidungsgründe der 1. Instanz durch Verlesen zur Kenntnis des Berufungsgerichts gebracht. Aber es handelt sich dann für das Berufungsgericht nicht sowohl um eine Nachprüfung, ob die tatsächliche und rechtliche Beurteilung des Falles durch den Vorderrichter richtig ist, als um die Gewinnung eines selbständigen Urteils auf Grund der vor dem Berufungsgericht stattfindenden vollständigen neuen Verhandlung. Ich vermag nicht abzusehen, wie das den Schöffen bei der Verhandlung in 2. Instanz mehr Schwierigkeiten machen soll, als in der 1., und bin der Meinung, daß das Sichsträuben der Majorität des Bundesrats gegen die Zulassung von Schöffen bei den Berufungsgerichten auf einem, wenn auch unbewußten, Rest der Befürchtung mancher Richter beruht, daß es den Schöffen an der vollen Objektivität zu einer dem Tatbestand gerecht werdenden Rechtsprechung fehle, welche Furcht bis zur Aufstellung des Reformentwurfs auch selbst ihre Zulassung zur Strafkammer in 1. Instanz verhindert hat.

Reform der Schwurgerichte.

Auffallend ist es, daß der Entwurf, während sein Vertrauen zu einer Rechtsprechung, an der Laien neben den Richtern teilnehmen, so gering ist, daß er für die Urteile, die unter Zuziehung von Schöffen ergehen, eine Nachprüfung durch ausschließlich mit Richtern besetzte Berufungsgerichte verlangt, für die schwersten Straffälle Schwurgerichte bestehen läßt, bei denen der Wahlspruch über die Schuld ausschließlich durch

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/329&oldid=- (Version vom 4.8.2020)