Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/277

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

verkennen, daß diese vielfach darüber hinausgehen und gemacht worden sind, um Gründe, die das Zustandekommen des BGB. hätten hindern können, aus dem Wege zu räumen. Soweit dieser Gesichtspunkt reicht, muß man sagen, daß das heiße Sehnen nach Rechtseinheit noch nicht erreicht ist und auf bessere Zeitumstände vertröstet werden muß.

Einheit des Privatrechts.

Den Hauptwert des BGB. müssen wir darin sehen, daß überhaupt die Einheit des Privatrechts erlangt worden ist. Das war ein gewaltiger Fortschritt, der um so höher einzuschätzen ist, als das einheitliche Privatrecht in der Hauptsache für den Deutschen auch in den Schutzgebieten und in den Konsulargerichtsbezirken gilt. Fragen wir nun, ob das BGB. inhaltlich einen ebenso großen oder auch nur vergleichbar großen Fortschritt gebracht hat (etwa in der Art, wie das neue Schweizer Zivilgesetzbuch), so muß diese Frage leider verneint werden. Das Gesetz ist zwar in unserer Muttersprache geschrieben, aber die Volkstümlichkeit fehlt ihm völlig; es steht in dieser Beziehung weit hinter dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, dessen Lichtseiten man unter dem Banne der von der historischen Schule herstammenden Mißachtung verkannte, und auch hinter der Wechselordnung und dem Handelsgesetzbuch zurück und wird, solange es die gegenwärtige Gestalt hat, eine Geheimkunde derjenigen Juristen bleiben, die mit umfassenden Vorkenntnissen ausgerüstet das Gesetz befragen. Neue große Rechtsgedanken sind im BGB. nicht enthalten; es bewegt sich in den Gedankenkreisen, die in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts herrschten, und ist im wesentlichen eine ausgleichende Darstellung des damals geltenden Rechts, und zwar in der Hauptsache des sog. gemeinen (d. h. auf dem rezipierten römischen Rechte beruhenden) Rechts. Mehr konnte es auch nicht werden, nachdem man sich entschlossen hatte, es durch vielgliedrige Kommissionen ausarbeiten zu lassen, während es doch eine unbestreitbare Wahrheit ist, daß ein großes und einheitliches Werk nur im Kopfe eines Menschen entstehen und in guter Form nur aus einer Feder fließen kann. Sodann ist zu beachten, daß das BGB. aus einer Zeit stammt, in der der Blick der deutschen Welt noch nicht weit über die deutschen Grenzen hinausreichte, jedenfalls nicht der Blick der damaligen Juristenwelt, aus der selbstverständlich die gereiftesten, also die älteren Kräfte an dem Werke beteiligt waren. Überdenkt man den ungeheuren Umschwung, der sich in unseren Verhältnissen unter weitblickender Führung vollzogen hat, so ist es sicher, daß heute die Art der Vorbereitung und Ausführung eines so bedeutungsvollen Werkes, wie es das BGB. ist, eine andre sein würde. Das Hauptgewicht legten die Verfasser des ersten Entwurfs des BGB. auf die möglichst konsequente Durchführung von Rechtsprinzipien – ein Fehler, der unbegreiflich für alle die ist, die sich dessen bewußt sind, daß das Leben nicht um des Rechts wegen ist, sondern das Recht der Förderung der berechtigten Lebensinteressen zu dienen hat, – ein Fehler, der von der zweiten Kommission erkannt und in manchen Punkten beseitigt worden ist.

Ein gerechtes Urteil kann diese Unvollkommenheiten und Schattenseiten der deutschen Privatrechtsordnung nicht übergehen. Sie müssen für alle, die es angeht, ein Ansporn sein, darauf zu sinnen, wo und wie demnächst gebessert werden kann. Eine andre große

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/277&oldid=- (Version vom 31.7.2018)