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Das bürgerliche Recht
Von Geh. Justizrat Prof. Dr. Hellwig, Berlin †

Das bürgerliche Gesetzbuch.

Die Jahrzehnte, die seit der Gründung des Norddeutschen Bundes und des neuen Reichs verflossen sind, sind ausgezeichnet durch eine wohl als beispiellos zu bezeichnende Fruchtbarkeit der Gesetzgebungstätigkeit. Erstaunlich ist der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Gesetze, die dazu bestimmt waren, die politischen Verhältnisse und die Wehrhaftigkeit des Volkes zu ordnen und das neue Haus wohnlich einzurichten. Übersieht man die Entwicklung, die das Privatrecht und das mit ihm in enger Verbindung stehende Zivilprozeßrecht in den letzten 25 Jahren gehabt hat, so muß als das wichtigste Ereignis der Erlaß des „Bürgerlichen Gesetzbuchs“ bezeichnet werden. Am 18. August 1896, einem der denkwürdigen Erinnerungstage des großen Krieges, vollzog Kaiser Wilhelm II. das nach mühseliger, langer Arbeit endlich zustande gekommene Gesetz. Der 1. Januar 1900, an dem es mit den es ergänzenden Gesetzen in Kraft trat, ist ein Tag von der allergrößten Bedeutung für die Geschichte des deutschen Rechts und damit des deutschen Volkes, ein Tag, der noch wichtiger ist als der 1. Oktober 1879, an dem die alsbald nach Gründung des Reichs in Angriff genommenen und rascher zustande gebrachten Reichsjustizgesetze zum ersten Male von den deutschen Gerichten angewendet wurden. Denn so wichtig die Prozeßgesetze für die Allgemeinheit sind, so berühren sie doch die große Masse der einzelnen lange nicht so stark, wie die Regelung des bürgerlichen Rechts. Weite Kreise des Volkes treten während des ganzen Lebens weder vor ein Straf- noch vor ein Zivilgericht und empfinden deshalb die Gemeinsamkeit oder Verschiedenheit der Prozeßeinrichtungen und ihre Güte oder ihre Mängel nicht an sich selbst. Ganz anders ist es beim bürgerlichen Recht. Denn dieses – das Personen-, Familien- und Vermögensrecht – greift in das Leben eines jeden einzelnen tausendfältig ein, weil es die Verhältnisse regelt, in denen die einzelne Persönlichkeit lebt und sich entwickelt. Deshalb wird durch die Rechtsverschiedenheit das Gefühl der Zusammengehörigkeit mehr oder weniger stark beeinträchtigt, und umgekehrt gibt es kein Mittel, wodurch dieses Gefühl mehr gefestigt wird, als durch die Gemeinsamkeit des Rechts, namentlich auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts. Kluge Staatsmänner haben das wohl erkannt. Aus neuerer Zeit sei nur an Friedrich den Großen und Napoleon erinnert. Erst der große König vollendete das vom Beginne des 18. Jahrhunderts datierende Werk der Zusammenschweißung der preußischen Staaten zu einem einheitlichen Organismus; zu den großen Mitteln, mit denen er diese gewaltige Aufgabe löste, gehörte auch die Vereinheitlichung des Rechts,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/275&oldid=- (Version vom 31.7.2018)