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bestrebt, zu einer sorgfältigeren Scheidung der ordentlichen und außerordentlichen Ausgaben zu gelangen, aber es fehlten die Mittel, gelegentlich auch die Kraft, der Erkenntnis gemäß zu verfahren. Erst im Jahre 1900 erwachte das Gewissen und die Überzeugung, daß es nicht so weitergehen könne. Damals ersuchte der Reichstag die Regierung, Grundsätze darüber aufzustellen, welche Ausgaben aus Anleihemitteln gedeckt werden dürfen. Sie wurden genau für die Verwaltung des Reichsheeres, der Marine, der Eisenbahn- und Postverwaltung bezeichnet und waren geeignet, Ordnung anzubahnen. Man hat berechnet, daß, wenn diese Grundzüge seit Beginn der Verschuldung eingehalten worden wären, von den bis 1894 aufgenommenen 1740 Mill. M. Reichsanleihen 865 Millionen aus laufenden Einnahmen zu decken gewesen wären. Wären die Überweisungen der Jahre 1883–92 mit über 500 Mill. M., dann diejenigen von 1896–98 mit rund 60 Millionen dem Reiche verblieben, wäre rechtzeitig eine Einnahmemehrung seitens des Reichstags bewilligt worden und, was an Zinsen gezahlt werden mußte, den eigentlichen Ausgaben zugute gekommen, so hätte sich das Reich ohne allzu große Belastung der Steuerzahler bis Anfang dieses Jahrhunderts so ziemlich schuldenfrei halten können. Es wäre dann nicht notwendig gewesen, die ganze Last der Rüstungsausgaben von 1913 der Gegenwart aufzubürden. Aber auch nachdem die Grundsätze aufgestellt waren, wurde es zunächst nicht anders; denn man konnte sie nicht befolgen. Teils waren die Kriegsausgaben zu bestreiten, von denen oben die Rede war, teils waren bedeutende Ausgaben für Heer und Flotte, für die Eisenbahn- und Postverwaltung nötig, für die es gänzlich an Mitteln fehlte. Mußten doch in dieser Zeit für 141 Millionen Zuschußanleihen aufgebracht werden, um Defizite im ordentlichen Etat zu decken. Im Zusammenhang mit der Finanzreform von 1906 sollte auch das Schuldenwesen gebessert werden; von 1908 ab sollte die Anleiheschuld mit mindestens 3/5%, des jeweiligen Schuldbetrags getilgt werden. Aber bei dem kläglichen finanziellen Ergebnis dieser Reform mußte diese Vorschrift auf dem Papier bleiben. Endlich ist ein neues Tilgungsgesetz im Zusammenhang mit der Finanzreform von 1909 ergangen. Darnach sollen die früheren Vorschriften über die Tilgung solcher Anleihen, die zu werbenden Zwecken eingegangen sind, in Kraft bleiben; zur Tilgung der bis 30. September 1909 begebenen sonstigen Anleihen ist jährlich mindestens 1% des an diesem Tage vorhandenen Schuldkapitals zu verwenden; die Tilgung der vom 1. Oktober 1910 ab aufgenommenen Schulden hat zu geschehen: bei Anleihen für werbende Zwecke mit mindestens 1,9%, im übrigen mit mindestens 3%, in beiden Fällen unter Hinzurechnung der ersparten Zinsen. Da aber auch Abschreibungen vom Anleihesoll und Anrechnung auf offene Kredite bis zur Höhe der zur Schuldentilgung zur Verfügung stehenden Beträge einer Tilgung gleich geachtet werden sollen, so ist bei der stets gegebenen Veranlassung zur Aufnahme neuer Schulden eine ergiebige Verminderung des Schuldenstandes kaum zu erhoffen.

3. Abschließende Betrachtungen.

An diese kurzen geschichtlichen Darlegungen, die unumgänglich sind, um ein Bild von den Finanzen und Steuern des Reiches in der Zeit von 1888 bis zur Gegenwart zu geben, sollen einige kritische Betrachtungen sich anschließen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/269&oldid=- (Version vom 4.8.2020)