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des Norddeutschen Bundes in die Reichsverfassung übernommen. Sie waren als Provisorium gedacht, solange es an anderen genügenden Einnahmen fehlte. Ihre Berechtigung soll nicht bestritten werden, wenn es sich darum handelt, die geringen Bedürfnisse eines lockeren Staatenbundes zu befriedigen. Für einen stark zentralisierten Bundesstaat mit so großen Aufgaben wie das Deutsche Reich sind sie ungeeignet. Ganz abgesehen davon, daß ihre Verteilung nach der Kopfzahl den einen Staat mehr als den anderen belastet, bereiten sie den einzelstaatlichen Finanzwirtschaften große Ungelegenheiten, und zwar um so größere, je mehr sie schwanken und je höher sie sind. Fürst Bismarck hat ihre ungünstigen politischen Wirkungen nicht verkannt, und die Reichsregierung hat es von Anfang an nicht an Bemühungen fehlen lassen, sie zu beseitigen. Schon die Zoll- und Finanzreform von 1879 sollte sie entbehrlich machen, ja nach dem Gedanken des Reichskanzlers das bisherige Verhältnis in das Gegenteil verkehren und den Bundesstaaten Zuschüsse aus Reichsmitteln gewähren. Dieser Gedanke ist dann auch erreicht worden, aber in einer Weise, die keineswegs in der Absicht der Reichsregierung gelegen war. Durch die Beseitigung der Matrikularbeiträge drohte nämlich dem Reichstag das Recht der Einnahmebewilligung zu entgleiten, das er durch deren jährliche Festsetzung ausgeübt hatte. Darin erblickte man eine konstitutionelle Gefahr, die abzuwenden für notwendig erachtet wurde. Zu diesem Zwecke wies man nach der Franckensteinschen Klausel zum Zolltarifgesetz von 1879 den 130 Mill. M. übersteigenden Betrag der Zölle und Tabaksteuer an die Bundesstaaten und erreichte damit, daß die eigenen Einnahmen des Reiches zur Befriedigung seines Bedarfs nicht ausreichten, also nach wie vor jährlich Matrikularbeiträge bewilligt werden mußten. Diese Regelung hat die konstitutionellen Garantien nicht verstärkt, dagegen viel Verwirrung formeller und materieller Art in den Finanzen des Reiches angerichtet. Sie hat zu unnützen Hin- und Herschiebungen von Geldern, zur Verschleierung der tatsächlichen Finanzverhältnisse geführt und es verhindert, daß das Reich finanziell selbständig wurde. Sie hat auch auf die Bundesstaaten keinen günstigen Einfluß ausgeübt. Denn sie hat ihnen Mittel zugeführt, die nicht immer eine zweckmäßige Verwendung gefunden haben, während sie in der Hand des Reiches der Zunahme der Schulden gesteuert hätten. Soweit die Bundesstaaten mit ihnen laufende Ausgaben bestritten und ihre Budgets bilanzierten, mußten große Verlegenheiten entstehen, als sie wieder abnahmen und versiegten.

Als dem Reiche später weitere Einnahmequellen erschlossen wurden, mußte man, auf der betretenen Bahn fortschreitend, auch diese ganz oder teilweise den Bundesstaaten überweisen, um das künstliche Defizit aufrecht zu erhalten. Im Jahre 1904 machte man dem Reichstage das Zugeständnis, die Matrikularbeiträge aus einer vorläufigen in eine dauernde Einrichtung zu verwandeln. Der Ausweg, zu dem man im Jahre 1906 griff, um den Bundesstaaten die Last zu erleichtern, nämlich die Matrikularbeiträge, soweit sie den Betrag von 40 Pf. pro Kopf der Bevölkerung überstiegen, auf 3 Jahre zu stunden, erwies sich als verfehlt; denn die gestundeten Matrikularbeiträge erreichten damals eine Höhe, daß sie auch nach 3 Jahren von den Bundesstaaten nicht bezahlt werden konnten, ohne deren Finanzwesen schwer zu erschüttern.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/267&oldid=- (Version vom 4.8.2020)