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Diesen verschiedenen Aufgaben wohnt nicht die gleiche Bedeutung für die Finanzen inne. Die Erfüllung der einen, nämlich derjenigen, die der inneren Politik dienen, ist mehr oder weniger in das Belieben der gesetzgebenden Faktoren gegeben. Die Erfüllung der anderen, der Aufgabe des militärischen Schutzes, ist nur zum Teile dem freien Ermessen überlassen; zum größten Teil ist sie bedingt durch das Verhalten der Nachbarstaaten; sie muß erfolgen im Verhältnis der Steigerung von deren Wehrmacht, wenn nicht der Bestand des Reiches bedroht werden soll. Daraus ergeben sich schwerwiegende Folgen für den Reichshaushalt.

Aus dem deutsch-französischen Krieg war das Reich hervorgegangen. Wenn es der Kunst des leitenden Staatsmannes auch gelungen war, Deutschland die Frucht seiner Siege zu sichern, so war ihm doch ein tief gekränkter, auf Vergeltung sinnender Feind entstanden, der in Respekt gehalten werden mußte. Und im Laufe der Jahre kamen andere Vorgänge dazu, die einen verstärkten Schutz bedingten. Vor allem das wirtschaftliche Erweiterungsbedürfnis des Deutschen Reichs. Gerade die Einigung zum Reiche ist der mächtigste Hebel zu einer beispiellosen, nach aufwärts und auswärts drängenden wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Die rasch sich mehrende Bevölkerung, zum Teil auch die Krisis in der Landwirtschaft führten wachsende Menschenströme ins Ausland, noch mehr aber in die industriellen Arbeitsstätten, die der rasch aufgeschossene Unternehmungsgeist zu errichten begonnen hatte. Für die anschwellenden Mengen von Waren mußten Absatzgelegenheiten im Auslande gesucht werden. Die Zunahme der Einkommen und Vermögen gab den Mut, höher verzinsliche Anlagen im Auslande aufzusuchen. Wählend die Menschenausfuhr allmählich zurückging, wuchs die Ausfuhr von Waren und Kapitalien. Erst mit Staunen, dann mit wachsendem Mißbehagen sahen andere Staaten, allen voran England, den Einbruch in alte Reservate. Zwar war auch früher der deutsche Kaufmann seinem Erwerb auf der ganzen Welt nachgegangen; aber mehr unauffällig, mit bescheidenen Gewinnen sich begnügend, häufig in dienender Stellung, ohne Nationalbewußtsein, ohne den Rückhalt eines starken und ansehengebietenden Heimatlandes. Mit der Gründung des Reiches war dies anders geworden. Das Bedürfnis, im Ausland festen Fuß zu fassen, an den Handelsgewinnen anderer Völker teilzunehmen, auf unverteilte Gebiete der Erde Hand zu legen, den Schutz seiner überseeischen Interessen auszubauen, brachte den Deutschen in Gegensatz zu dem führenden Handels- und Seefahrtsvolk der Welt. Angst um den Verlust der alten Weidegründe und die Schmälerung der Welt- und Seeherrschaft haben England zu einer gewaltigen Steigerung seiner Seewehr und zu dem Bündnis mit Frankreich und Rußland geführt, dessen Wirkungen wieder auf uns zurückfielen. Mochte das Deutsche Reich noch so oft die Friedfertigkeit seiner Gesinnung betonen –, man hatte sich draußen gewöhnt, es als Störenfried mit Mißtrauen und Übelwollen zu betrachten. Unter solchen Verhältnissen blieb nichts übrig, als den Aufwand für Heer und Flotte in steter Entwicklung zu steigern, wenn anders das Reich nicht seine Existenz aufs Spiel setzen will.

Diese allgemeinen Ursachen für die Steigerung des Kriegsaufwandes werden noch verstärkt durch besondere technische. Die moderne Technik, der wir die beispiellosen Fortschritte auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens, insbesondere im

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/253&oldid=- (Version vom 4.8.2020)