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nach größerer Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit bei der Verteilung der Steuerlasten Rechnung getragen wurde, so konnte dieses nach der ganzen Natur der Aufwand- und Verkehrssteuern doch nur in beschränktem Maße zur Geltung gelangen. Anders in den Einzelstaaten. Seit das Reich sich der Zölle, Aufwandsteuern und Verkehrssteuern bemächtigt hatte, waren diese, mit wenigen Ausnahmen, auf die Ausnutzung ihrer direkten Steuern angewiesen. Außerordentlich groß waren noch vor 25 Jahren die Verschiedenheit der tatsächlichen Verhältnisse in den Einzelstaaten; aber keines der Steuersysteme zeigte sich den drängenden Anforderungen auf die Dauer gewachsen. Sie entsprachen älteren, einfacheren Verhältnissen; die ihnen anhaftenden Mängel mußten bei Steigerung der Sätze unerträglich werden. Das sich verfeinernde Gerechtigkeitsgefühl drängte zu neuen Grundlagen und Formen. So sind die 25 Jahre erfüllt von einzelstaatlichen Steuerreformen, deren Antrieb in der Not der Bedürfnisse gegeben, deren Ergebnis aber letzten Endes eine gerechtere Verteilung und eine weit bessere Technik war. Der Entwicklungsgang war verschieden, wie dies bei der Verschiedenheit der historischen Verhältnisse und der wirtschaftlichen Zustände kaum anders sein konnte; der eine Staat hat rasch, der andere zögernd und unter großen Schwierigkeiten den Fortschritt vollzogen. Aber, mit verschwindenden Ausnahmen, haben die deutschen Staaten den Übergang zur Personalbesteuerung im Prinzipe vorgenommen und sind damit, was das direkte Steuerwesen betrifft, an die Spitze der Kulturstaaten getreten. Nur für die Lösung des schweren Problems der Gemeindebesteuerung ist der Schlüssel noch nicht gefunden. Und die unzweifelhaften Fortschritte, die auch hierin die letzten 25 Jahre gebracht haben, können über ihre Mängel nicht hinwegtäuschen. Es wird Aufgabe der Zukunft sein, ihrer Weiterbildung sich zu widmen.

Die reiche Entwicklung der Finanzen und insonderheit des Steuerwesens in dem Zeitraum von 1888 bis heute für das Reich in ihren wichtigsten Etappen und Ergebnissen kurz darzustellen, soll auf den folgenden Seiten versucht werden. Ein Eingehen auf die Finanzverhältnisse der Einzelstaaten und Gemeinden ist wegen der Beschränktheit des Raumes nicht möglich.

1. Das Ausgabewesen. Die Ausgaben im allgemeinen.

Die Ausgaben des Reichs sind bedingt von seinen Aufgaben. Als diese werden in den Einleitungsworten der Reichsverfassung bezeichnet: „Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes“ und „Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes“. Der Artikel 4 führt sie des näheren auf: auf dem Gebiete der Macht- und äußeren Politik das Heer- und Marine-, Gesandtschafts- und Konsulatswesen, auf dem Gebiete der inneren Politik die Wahrung der wirtschaftlichen Einheit durch die Zoll- und Handelsgesetzgebung, die Fürsorge für die allgemeinen Interessen bei Eisenbahnen, Wasserstraßen und im Nachrichtenverkehr, die Regelung des Gewerberechts, des Versicherungswesens, des Erfinderschutzes und des Schutzes des geistigen Eigentums, die Sicherung der Rechtseinheit im gesamten bürgerlichen Recht, im Strafrecht und im gerichtlichen Verfahren.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/252&oldid=- (Version vom 4.8.2020)