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lassen von der Ungeduld des Ehrgeizes, sondern von den Interessen und Rechten, die wir zu fördern und zu behaupten hatten. Wir sind nicht in die Weltpolitik hineingesprungen, wir sind in unsere weltpolitischen Aufgaben hineingewachsen, und wir haben nicht die alte europäische Politik Preußen-Deutschlands gegen die neue Weltpolitik ausgetauscht, sondern wir ruhen heute noch wie vor alters mit den starken Wurzeln unserer Kraft im alten Europa.

„Die Aufgabe unserer Generation ist es, gleichzeitig unsere kontinentale Stellung, welche die Grundlage unserer Weltstellung ist, zu wahren und unsere überseeischen Interessen so zu pflegen, eine besonnene, vernünftige, sich weise beschränkende Weltpolitik so zu führen, daß die Sicherheit des deutschen Volkes nicht gefährdet und die Zukunft der Nation nicht beeinträchtigt wird.“ Mit diesen Worten suchte ich am 14. November 1906 gegen Ende einer ausführlicheren Darstellung der internationalen Lage die Aufgabe zu formulieren, die Deutschland gegenwärtig und nach menschlichem Ermessen auch in Zukunft zu erfüllen hat: Weltpolitik auf der festen Basis unserer europäischen Großmachtstellung. Anfangs wurden wohl Stimmen laut, die das Beschreiten der neuen weltpolitischen Wege als ein Abirren von den bewährten Bahnen der Bismarckischen Kontinentalpolitik tadelten. Man übersah, daß gerade Bismarck uns neue Wege dadurch wies, daß er die alten zu ihren Zielen geführt hatte. Seine Arbeit hat uns die Tore der Weltpolitik recht eigentlich geöffnet. Erst nach der staatlichen Einigung und der politischen Erstarkung Deutschlands war die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft möglich. Erst nachdem das Reich seine Stellung in Europa gesichert sah, konnte es daran denken, für die Interessen einzutreten, die deutsche Unternehmungslust, deutscher Gewerbefleiß und kaufmännischer Wagemut in aller Herren Länder geschaffen hatten. Gewiß sah Bismarck den Verlauf dieser neuen deutschen Entwicklung, die Aufgaben dieser neuen Zeit nicht im einzelnen voraus und konnte sie nicht voraussehen. In dem reichen Schatz politischer Erkenntnisse, die Fürst Bismarck uns hinterlassen hat, finden sich für unsere weltpolitischen Aufgaben nirgends die allgemeingültigen Sätze, wie er sie für eine große Zahl von Möglichkeiten unseres nationalen Lebens geprägt hat. Vergebens suchen wir in den Entschlüssen seiner praktischen Politik nach einer Rechtfertigung für die Entschließungen, die unsere weltpolitischen Aufgaben von uns fordern. Wohl wurde auch diese neue andere Zeit von Bismarck vorbereitet. Nie dürfen wir vergessen, daß wir ohne die gigantische Leistung des Fürsten Bismarck, der mit einem mächtigen Ruck in Jahren nachholte, was in Jahrhunderten vertan und versäumt worden war, die neue Zeit nicht hätten erleben können. Wenn aber auch jede neue Epoche geschichtlicher Entwicklung durch die vorhergehende bedingt ist, ihre treibenden Kräfte mehr oder minder stark der Vergangenheit dankt, so kann sie doch nur einen Fortschritt bringen, wenn sie die alten Wege und Ziele hinter sich läßt und zu anderen eigenen dringt. Entfernen wir uns auf unseren neuen weltpolitischen Bahnen auch von der europäischen Politik des ersten Kanzlers, so bleibt es doch wahr, daß die weltpolitischen Aufgaben des 20. Jahrhunderts die rechte Fortführung sind der kontinentalpolitischen Aufgaben, die er erfüllt hat. In jener Rede vom 14. November 1906 wies ich darauf hin, daß die Nachfolge Bismarcks nicht eine Nachahmung, sondern eine Fortbildung

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)