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willkürlich herbeigeführt werden: die Sachlage selbst wird kaum geändert werden können. Daß hohe Leistungen gewählt werden, wird von anderer Seite gerade auf diese sorgfältige Auswahl der Arbeitskräfte, auf das Abstoßen der Schwächeren zurückgeführt. Auch darin liegt zweifellos etwas Wahres. Trotz alledem sprechen auch hier Zahlen eine deutliche Sprache. Während die Ortskrankenkassen im Jahre 1911 bei einem Mitgliederstande von 7 217 908 Personen an Krankheitskosten aufgebracht haben 188 815 740 M., haben die Betriebskrankenkassen bei einem Mitgliederstande von 3 396 000 aufgebracht in demselben Jahre 113 255 766 M., obwohl nach ihrer Mitgliederzahl nur eine Leistung von ungefähr 90 Mill. Mark zu erwarten gewesen wäre. Die Reichsversicherungsordnung hat deshalb den vielfachen Bestrebungen auf Aufhebung der Betriebskrankenkassen keine Folge gegeben, immerhin jedoch durch ihre gesetzlichen Bestimmungen dafür Sorge getragen, daß berechtigte Ansprüche der Sozialversicherung erfüllt werden. So werden bestehende Betriebskrankenkassen nur dann aufrechterhalten, wenn sie mindestens 100, bei Krankenkassen für landwirtschaftliche oder Binnenschiffahrtsbetriebe mindestens 50 Mitglieder haben, ihre satzungsmäßigen Leistungen jenen der maßgebenden Ortskrankenkasse mindestens gleichwertig sind oder binnen 6 Monaten gemacht werden und ihre Leistungsfähigkeit für die Dauer sicher ist. Neu errichtet werden darf eine Betriebskrankenkasse nur, wenn sie den Bestand oder die Leistungsfähigkeit vorhandener Ortskrankenkassen und Landkrankenkassen nicht gefährdet; dabei gilt eine Kasse nicht als gefährdet, wenn sie nach Errichtung einer Betriebskrankenkasse mehr als 1000 Mitglieder behält. Wie bei der Zulassung einer bestehenden, ist auch bei der Neuerrichtung einer noch nicht vorhandenen Betriebskrankenkasse weiter vorausgesetzt, daß die satzungsmäßigen Leistungen denen der maßgebenden Krankenkasse mindestens gleichwertig sind und ihre Leistungsfähigkeit für die Dauer gesichert ist. Soweit man zurzeit die Entwicklung übersehen kann, wird die Form der Betriebskrankenkasse keineswegs auf den Aussterbeetat gesetzt sein. Die verhältnismäßig geringe Mitgliederzahl, die als Voraussetzung bestimmt ist, wird eher den Neugründungen förderlich als nachteilig erscheinen. Andererseits konnte man auch schon deshalb nicht eine allzuhohe Mitgliederziffer als Bedingung stellen, weil sonst nur den ganz großen Fabrikbetrieben, etwa in der Schwerindustrie und der chemischen Industrie, der Vorzug eingeräumt worden wäre; man hätte damit gerade den mittleren Fabrikantenstand hart getroffen und die volkswirtschaftliche Tendenz auf eine Zentralisation aller Betriebe auch von diesem sozialpolitischen Gesichtspunkte aus ungewollt beschleunigt.

Innungskrankenkassen und Handwerk.

Darüber, ob auch das Handwerk im engeren Sinne den Anspruch stellen kann, besondere Krankenkassen zu errichten, war man bei der Entstehung der Reichsversicherungsordnung vielfach verschiedener Meinung. Das Gesetz hat die Beibehaltung der Innungskrankenkassen ausgesprochen, aber gewisse Vorsichtsmaßregeln getroffen. Vielfach ist nämlich der Verdacht ausgesprochen worden, der nicht ohne weiteres als unbegründet bezeichnet werden kann, daß die Innungskrankenkassen zuweilen nur deshalb errichtet würden, um die höhere Beitragsleistung an die sonst zuständige Ortskrankenkasse

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/245&oldid=- (Version vom 31.7.2018)