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der Ärzte stattfindet, jene daher nicht in der Lage sind, den „Arzt ihres Vertrauens“ zu Rate zu ziehen. Die Reichsversicherungsordnung trägt diesem Gedanken mit der Bestimmung Rechnung, es soll die Kasse, soweit es sie nicht erheblich mehr belastet, ihren Mitgliedern die Auswahl zwischen mindestens zwei Ärzten frei lassen. Tatsächlich ist aber auch beim Kassenarztsystem ein weiter Spielraum gegeben; in kleineren und mittleren Ortschaften ist die Auswahl unter den Ärzten ohnedies objektiv beschränkt durch die Zahl der vorhandenen Ärzte; in größeren und großen Städten aber geht die Zahl der Kassenärzte meist schon in die Hunderte.

b) Unfallversicherung.

Auf dem Gebiete der Unfallversicherung sind die Leistungen bestimmt, den Schaden zu ersetzen, der durch Tötung oder Körperverletzung entsteht. Sie bestehen daher teils in Krankenbehandlung, teils in einer Rente für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit. In der Krankenbehandlung sind einbegriffen ärztliche Tätigkeit und Versorgung mit Arznei und anderen Heilmitteln, aber auch Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um den Erfolg des Heilverfahrens zu sichern und die Folgen der Verletzung zu erleichtern. Daß je nach dem Maße der Erwerbsunfähigkeit die Rente abgestuft werden muß, erscheint unvermeidlich; doch ergeben sich große Schwierigkeiten zwar nicht bei einer Vollrente, die bei völliger Erwerbsunfähigkeit in Höhe von zwei Drittel des Jahresarbeitsverdienstes gewährt wird, sondern bei Teilrenten, die dem Maße der Einbuße an Erwerbsfähigkeit entsprechen sollen. Die Verwaltung und Rechtsprechung gelangt hierbei des öfteren zu einer mehr schematischen Abgrenzung, da es in der Tat nicht ganz leicht ist, etwa bei Verlust eines Körperteiles mit aller Sicherheit das Maß der Erwerbsunfähigkeit in Prozenten festzustellen. Aber auch die Gefahr von Gewährung allzu kleiner Renten ist nicht vermieden worden, obwohl diese zu einer wirksamen Unterstützung des Lebensunterhaltes nicht beitragen, andererseits den Anreiz zu Simulationsversuchen in sich schließen. Der Rentenbezieher fürchtet den Verlust seiner Bezüge und will nicht gesund werden. Die Reichsversicherungsordnung hat hier dadurch helfen wollen, daß sie die Kapitalabfindung des Verletzten bei Renten von 20% und weniger gestattet.

Besondere Umstände finden die Möglichkeit einer Erhöhung der Rente vor. Ist der Verletzte derartig hilflos, daß er ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen kann, so kann ihm mehr als die Vollrente zugesprochen werden, jedoch höchstens in dem Betrage bis zum vollen Jahresarbeitsverdienst; bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit kann die Teilrente auf Zeit bis zur Vollrente erhöht werden. Bei Tötung des Versicherten empfangen die Hinterbliebenen eine, freilich nicht übermäßig hohe Rente und auch Sterbegeld im Betrage des 16. Teiles des Jahresarbeitsverdienstes, jedoch mindestens 50 M. Ausländer können unter Umständen mit einem Kapital abgefunden werden.

Es ist eine Aufgabe von hohem Wert, auch bei den großen Massen der Bevölkerung die die Kreise der Verwaltung längst beherrschende Überzeugung zu verbreiten und zu festigen, daß das Hauptziel der Unfallversicherung nicht sein kann die Züchtung eines Staatspensionärwesens, sondern die Vorbeugung und die Heilung von körperlichen Verletzungen, natürlich neben einer Entschädigung der Hinterbliebenen im Falle der

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/232&oldid=- (Version vom 31.7.2018)