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nahm, zu bemerkenswerter Bedeutung gelangt, die das Ziel verfolgte, den sogen. Privatbeamten eine Sicherung für ihren Lebensabend zu gewähren. Zwischen den in sich freilich außerordentlich abgestuften Arbeiterklassen und den führenden selbständigen Kräften der Unternehmer unserer Volkswirtschaft schob sich seit einiger Zeit ein Mittelstand ein, der besonders in Handel und Industrie zur Förderung dieser großen Erwerbszweige durch seine Intelligenz, Arbeitsfreudigkeit, vielfach seinen Erfindungsgeist beitrug und dessen bodenständige Gesinnung große Bedeutung hatte. Den Leistungen dieses Berufskreises standen aber nicht entsprechende finanzielle Vorteile gegenüber, da der Durchschnitt der sogen. Privatbeamten eine seiner Vorbildung und Bedeutung entsprechende Einnahmehöhe nur in Ausnahmefällen erreichte. Hinzu kam, daß die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft zu einer stetigen Herabminderung der selbständigen Existenzen führt, so daß die Sorge für den täglichen Lebensunterhalt sich mit derjenigen über die Zukunft der Familie und das eigene Alter verbindet. Es kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden, welche Gründe für und wider sprachen, gerade für diese Schichten, die den rein geistig Arbeitenden näher als den eigentlichen Arbeitern standen, eine besondere Pensionsversicherung, die auch mit einem Heilverfahren im Falle der Krankheit verbunden ist, zu gewähren. Mancherlei parteipolitische Gesichtspunkte haben hier ihre Rolle gespielt. Aber der Gedanke, auch dieser Berufsschicht die Möglichkeit einer Fürsorge im Falle der Berufsunfähigkeit und des Alters zu geben, war gesund. Das Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. Dezember 1911 mag in vielen Punkten lückenhaft, in Ausdruck und Sinn verbesserungsbedürftig sein: man wird nicht in Abrede stellen können, daß es einen außerordentlich wertvollen Zweig der Sozialversicherung bildet.

Es tritt nunmehr die Aufgabe an uns heran, den wesentlichen Kern dieser beiden großen Kodifikationen zu umreißen.

II.

Kreis der einbezogenen Personen. Pflicht und Recht zur Versicherung.

Bei allen Zweigen der Sozialversicherung kommt es in erster Reihe darauf an, wer von ihr zu seinem Wohle ergriffen wird und welche Leistungen geboten werden. Während das Krankenversicherungsgesetz vom Jahre 1883 eine Anzahl von Betrieben aufzählt, diese in den späteren Novellen vermehrt und lediglich die in solchen beschäftigten Personen der Versicherungspflicht unterwarf, hat die RVO. von einer solchen Beschränkung abgesehen. Vielmehr werden bestimmte Berufskreise, unabhängig davon, ob sie in einem genauer bezeichneten Betriebe beschäftigt sind, in die Versicherung einbezogen. Das ist eine Erweiterung von größter Bedeutung, die gleichzeitig die vielen heillosen Streitigkeiten über die Zugehörigkeit zur Krankenversicherung auf ein ganz geringes Maß herabzumindern berufen ist. Wenn man feststellt, daß für den Fall der Krankheit nunmehr versichert werden alle Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge, Dienstboten, Betriebsbeamte und Werkmeister, Hausgewerbetreibende, die Schiffsbesatzung deutscher Seefahrzeuge, so wird man kaum Berufskreise in den Grenzen der arbeitenden Klassen denken können, die nicht der Vorteile des Gesetzes teilhaftig werden.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/227&oldid=- (Version vom 31.7.2018)