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konnte, und obwohl auch die Invalidität als eine Folge der Krankheit nicht zu übersehen war, so mußte doch die innere Verschiedenheit der Versicherungszweige bei der endgültigen Regelung den Ausschlag geben. Die Krankenversicherung war bestimmt für leichtere und vorübergehende Fälle der Krankheit. Ihre Leistungen, an sich bedeutsam genug, hatten nur den Zweck, die Gesundheit wieder herzustellen und die Arbeitsfähigkeit zu bewirken. Die Krankenkassen als die Träger dieser Versicherung bedurften zwar zweifellos großer, aber im Einzelfalle nicht überschwenglicher Mittel, um hier dem Bedürfnisse gerecht zu werden. Hingegen hat die Unfallversicherung mit ganz anderen Faktoren zu rechnen. Wenn auch durch die Unfallverhütungsvorschriften vorbeugender und durch das Heilverfahren möglicherweise Gesundheit herstellender Natur, sind doch ihre hauptsächlichen Leistungen: die Renten für den Verletzten und seine Hinterbliebenen, an die Voraussetzung lebenslänglicher und nur verhältnismäßig selten kürzerer Gewährung gebunden; ihr kapitalisierter Wert ist außerordentlich hoch. Ähnliches läßt sich auch von der Invalidenversicherung sagen. Auch die Organisationsformen sind durchweg verschieden gewesen und konnten in eine Einheitsform nur nach gefährlicher Umwandlung gebracht werden. Bei der Krankenversicherung war es die Selbstverwaltung vor allem der Arbeiter, bei der Unfallversicherung ausschließlich die der Unternehmer, bei der Invalidenversicherung der spezifisch staatliche Charakter der Verwaltung, der das hervorstechende Kennzeichen bildete. Auch die Vermögensverhältnisse waren sehr verschieden. Den großen Kapitalansammlungen der Versicherungsanstalten, die diese zu wohltätigen und gemeinnützigen Zwecken als Anleihen verwandten, stand die häufige Vermögenslosigkeit der Kassen, von denen nur ein geringer Teil den gesetzlichen Reservefonds auffüllte, gegenüber. Eine Zersplitterung des Kassenwesens sondergleichen, das Bestehen von Zwergkassen, das Schwindelwesen bei vielen eingeschriebenen Hilfskassen, nicht zuletzt die Notwendigkeit, den immer größer werdenden sozialpolitischen Anforderungen in bezug auf die Leistungen zu genügen, trieben in die Segel des Reformschiffes günstige Winde, die denn auch schließlich zum Hafen führten.

Reichsversicherungsordnung.

In der Gestalt der Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911 ist eine großzügige Kodifikation der gesamten Arbeiterversicherung im engeren Sinne entstanden. Nicht nur sind die bisherigen drei Zweige zusammengefaßt und durch einen neuen, der die Hinterbliebenenversicherung betrifft, ergänzt worden; vielmehr stand dieser äußeren Vereinheitlichung auch eine Fülle von neuen, fruchtbaren gesetzgeberischen Gestaltungen materieller Art zur Seite. Wohl ist so mancher Wunsch unerfüllt geblieben, den warmherzige, aber auch die praktische Durchführbarkeit wohl bedenkende Sachverständige geltend gemacht haben. Immerhin ist auch hier auf einer Mittellinie das zur Zeit denkbar Beste geleistet worden. Freilich bleibt Wissenschaft und Praxis noch eine Überfülle von Arbeit, dieses neue Recht in die Wirklichkeit überzuführen, an seiner Ausgestaltung zu arbeiten, seine Lücken auszufüllen, seine Mängel zu verbessern.

Angestelltenversicherung.

Schon seit mehreren Jahren jedoch war eine lebhafte Bewegung, die von Österreich ihren Ausgangspunkt

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/226&oldid=- (Version vom 31.7.2018)