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allmählich im höheren Sinne des Allgemeinwohls unerträgliche Verhältnisse entstehen sollen.

So geboten aber solche Forderung erscheint, so wenig ist der Staat als Vertreter der Allgemeininteressen leider zur Anerkennung ihrer Berechtigung vielfach bereit gewesen. Auch in dieser Frage hat der unserem Volkstume in so vielen Beziehungen nachteilige unselige Gegensatz von „Stadt und Land“ zu Auffassungen und Entscheidungen geführt, die der Bedeutung der Sache in keiner Weise gerecht wurden. Denn, wie oben bereits erwähnt, hat namentlich die außerordentlich beschleunigte Entwickelung der Großstädte zu derartigen Gegensätzen mit den an sie angrenzenden Gemeinden und zumeist auch Landkreisen geführt. Und der die heutige Verwaltung und Gesetzgebung leider vielfach beherrschende politische Gesichtspunkt, daß einem allzu beschleunigten Anwachsen der großen Massenanhäufungen in den Städten nach Möglichkeit entgegenzutreten sei, es mindestens nicht gefördert werden dürfe, hat in den letzten zwei Jahrzehnten manche, gerade vom Standpunkte des Staatsganzen aus unhaltbaren Zustände verlängert – und verschlimmert. Der zu einem immer unentwirrbareren Knäuel ausgewachsene allgemeine Interessen-Gegensatz des gewaltigen Selbstverwaltungszentrums Groß-Berlin ist die deutlichste und zugleich übelste Frucht solcher Auffassungen.

Lösung solcher Interessengegensätze.

Und doch erscheint es so natürlich wie geboten, daß die Lösung solcher Schwierigkeiten dem Sinn und Geist der Selbstverwaltung selbst entnommen werden sollte. Denn Selbstverwaltung anzuerkennen und sie mit ihrem Schutze zu umgeben, hat die Allgemeinheit – der Staat – nur da und insoweit ein Interesse, wo solche auch wirklich geübt wird und geübt werden kann. Den Schein einer solchen fortdauern zu lassen, auch wo sie nicht mehr, oder doch ohne die von ihr zu verlangende volle Beherrschung aller ihr anvertrauten Aufgaben, oft nur der Form nach besteht, kann der Allgemeinheit ebensowenig förderlich sein, wie das Bestehen unklarer, innerlich unwahr gewordener Verhältnisse überhaupt. Wo deshalb der Verwaltungseinfluß eines Verwaltungskörpers auf benachbarte andere so groß wird, daß in den Letzteren die Ergebnisse der eigenen Selbstverwaltungsarbeit mehr und mehr hinter jenen überragenderen zurückbleiben, ja wohl bis zur Bedeutungslosigkeit verblassen, da liegt es durchaus im wohlbegründeten Interesse des Allgemeinwohls, an der Klarheit und Wahrheit aller, auch der öffentlichrechtlichen Verhältnisse, daß der allein nicht mehr lebensfähige Verwaltungskörper oder -Körperteil als selbständiger zu bestehen aufhört und demjenigen Verwaltungskörper auch rechtlich eingefügt – eingemeindet – wird, der ihn durch seine lebendigere Kraft tatsächlich bereits zu einem Teile der eigenen Verwaltung gemacht hat. Die Feststellung, wann der Zeitpunkt zu solchem Schritte gekommen ist, macht erfahrungsgemäß keinerlei besondere Schwierigkeiten; sie hat sich natürlich auf den Beweis bestimmter Tatsachen zu gründen. Selbstverständlich ist es auch in erster Linie erwünscht, daß solche Regelung von Selbstverwaltungs-Gegensätzen durch Eingemeindungen im Wege gegenseitiger Einigung erfolgt. Wo solche aber nicht erreichbar, sollte sie der Staat – und zwar lieber so früh, denn so spät wie möglich – mit seinen Machtmitteln

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/216&oldid=- (Version vom 4.8.2020)