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Anhänglichkeit an ihren Träger, sondern auch, weil ich in ihr den Eckstein in Preußen und den Schlußstein des Reiches sehe.

Was uns Deutschen politisch fehlt, das ist nicht zu erringen durch Veränderungen auf dem verfassungsrechtlichen Gebiet. In den Parteien, denen vermehrte Rechte zugute kämen, fehlt es ja selbst noch vielfach zu sehr an politischem Urteil, politischer Schulung und Staatsbewußtsein. Noch steht in Deutschland eine große Summe der Gebildeten, denen ja die Führung im Parteileben gebührt, dem politischen Leben gleichgültig, wenn nicht gar ablehnend gegenüber. Sehr kluge und gelehrte Männer betonen oft mit einem gewissen Stolz, daß sie von Politik nichts verstehen und auch nichts wissen wollten. Die Unkenntnis der allerelementarsten Dinge des Staatslebens ist oft erstaunlich. Die Zeiten sind vorüber, in denen es für das Staatswohl nichts ausmachte, ob die Nation etwas von den Gesetzen verstand, die ihr gegeben wurden. Das Geschäft der Gesetzgebung liegt heut nicht mehr allein in den Händen mehr oder minder fach- und sachkundiger Beamter, sondern das Parlament arbeitet mit. Aber die Tätigkeit der Fraktionen vollzieht sich auch in unseren Tagen oft noch kaum anders als die ehemalige reine Beamtentätigkeit: bei vollkommener Verständnis- und Urteilslosigkeit weiter Kreise der Bevölkerung. Bei wirtschaftlichen Fragen regen sich wohl die Interessengruppen in Landwirtschaft, Handel und Industrie, bei einigen Spezialfragen regen sich die für die speziellen Dinge eigens gegründeten Vereine, aber im allgemeinen läßt man das Diktum der Parlamentarier mit der vollen Passivität des beschränkten Untertanenverstandes über sich ergehen. Wird dann das fertige Werk am Leibe gespürt, so setzt eine herbe Kritik ein, die sich aber auch nur auf den Einzelfall beschränkt, ohne eine Belebung des politischen Verständnisses zur Folge zu haben. Die aktive Anteilnahme am Gange der politischen Geschäfte, die fehlt uns Deutschen, eine Interessiertheit, die nicht gelegentlich des in mehrjährigen Zwischenräumen wiederkehrenden Wahlkampfes erwacht, sondern sich befaßt mit den großen und kleinen Fragen des staatlichen Lebens. Sache der Gebildeten ist es, diese politische Erziehung in die Hand zu nehmen, Sache der geistigen Führer, denen kein Volk so willig folgt, wie das deutsche. Die lässige Gleichgültigkeit geistig und ästhetisch empfindsamer Naturen gegenüber dem politischen Leben, die vor Zeiten einmal unschädlich war, ist heut nicht mehr am Platz. Die Gegenwart, die voll ist von ernsten und großen politischen Aufgaben, die in den Parlamenten eine Teilnahme des Volkes an den Staatsgeschäften geschaffen hat, braucht ein politisches Geschlecht. Und Regierungspflicht in dieser Gegenwart ist es nicht, dem Parlament neue Rechte zu schaffen, sondern die politische Teilnahme des Volkes in allen seinen Schichten zu wecken durch eine lebendige, national entschlossene, in ihren Zielen große, in ihren Mitteln energische Politik. Die Kritik, die jede Politik, die nicht farblos ist, auslösen muß, ist kein Schade, wenn auf der anderen Seite positives Interesse geweckt wird. Das Schlimmste im politischen Leben ist die Erstarrung, die allgemeine schwüle Windstille.

Die Ruhe ist nur dem gestattet, dem keine Pflicht mehr zu erfüllen bleibt. Kein Volk kann das von sich sagen. Am wenigsten das deutsche, das vor so kurzer Zeit erst einen neuen Weg zu neuen Zielen beschritten hat. Die Zahl der Aufgaben, die wir seit 1870 gelöst haben, ist doch klein neben der Zahl derer, die ihrer Lösung noch harren. Wir dürfen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/151&oldid=- (Version vom 31.7.2018)