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Traditionen. Dieser Unterschied kommt nicht nur zur Geltung in den Parteigegensätzen, sondern auch in den Parteien selbst. Man sucht es im deutschen Süden mehr in einer Lösung der politischen Kräfte nach unten hin, in Preußen mehr in einer Bindung der politischen Kräfte von oben her. Dort eine mehr geistige, hier eine mehr staatliche Auffassung des politischen Lebens. Eine jede der beiden ist Ergebnis geschichtlichen Werdens und hat ihre wohlberechtigte Eigenart. Der Preuße tut unrecht, wenn er im politischen Leben Süddeutschlands nichts sehen will, als zersetzende Demokratie. Der Süddeutsche tut ebensolches Unrecht, wenn er die Eigenart des preußischen Staatslebens als politische Rückständigkeit perhorresziert. Fortschritt ist im politischen Leben ein sehr fließender Begriff, und in welcher Richtung politischer Entwicklung zuletzt der wahre Fortschritt liegen wird, das ist eine Frage, die alle Weisen der Welt nicht werden beantworten können. Ein jeder Staat, ein jedes Volk sucht auf seine Weise vorwärtszukommen und seine politischen Institutionen zu vervollkommnen. Wir Deutschen, die wir aus geschichtlichen Gründen nicht ein einheitliches, sondern ein vielgestaltiges Staatsleben haben, dürfen uns weniger noch als ein anderes Volk abstrakte politische Prinzipien schaffen, weder solche, die allein den preußischen, noch solche, die allein den süddeutschen Überlieferungen entnommen sind, und alle Politik über den Leisten dieser Prinzipien schlagen. Unsere Aufgabe besteht darin, die politische Entwicklung in Preußen, den Einzelstaaten und im Reich so zu führen, daß jedem der Glieder im Reich diejenigen Kräfte erhalten werden, mit denen es dem gemeinsamen Vaterlande am wertvollsten ist. Die Harmonie des deutschen Lebens in allen seinen Teilen wird weniger zu erstreben sein durch eine Uniformierung aller Einrichtungen in Nord und Süd, in Ost und West, als durch ein Abschleifen der heute noch vorhandenen Gegensätze.

Die Bismarckische Reichsschöpfung war nicht zuletzt dadurch so meisterhaft, daß sie eine feste Bindung schuf, ohne die Eigenart und die Selbständigkeit der Einzelstaaten zu zerstören, und daß sie durch die Wahrung des monarchischen Prinzips auch im neuen Reich Preußen nicht nur nominell, sondern tatsächlich zum führenden Staat machte. Die Einigung Deutschlands, die der patriotischen Demokratie in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorschwebte, wollte die Selbständigkeit der Bundesstaaten mehr oder minder aufheben und die einigende Kraft in den maßgebenden Einfluß eines Reichsparlamentes legen. Abgesehen davon, daß die deutschen Fürsten für eine solche Einigung nie und nimmer zu haben gewesen wären, war es ein Irrtum, in dem durch und durch monarchischen Deutschland einigende Kräfte von einem noch gar nicht vorhandenen, geschweige denn erprobten Parlamentsleben zu erwarten. Daß in einer gemeinsamen deutschen Volksvertretung die Kräfte mehr auseinanderstreben als sich im Reichsgedanken und in großen nationalen Aufgaben zusammenfinden, haben die seit der Reichsgründung vergangenen Jahrzehnte mit ihren Kämpfen zwischen Reichsregierung und Reichstagsparteien genügend bewiesen. Der Preuße Bismarck wußte am besten, daß in Deutschland starkes Staatsleben nur monarchisch zu schaffen und zu erhalten ist. Das Einigungswerk konnte nur von Dauer sein, wenn dem deutschen Reichsbau nicht lediglich ein monarchisches Ornament gegeben wurde, sondern wenn die Monarchie tatsächlich zum Träger der Einigung wurde. Und sollte die durch Jahrhunderte erprobte staatsbildende

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/149&oldid=- (Version vom 31.7.2018)