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vor beinahe einem Jahrtausend begonnen, heut noch nicht beendet ist, ist nicht nur das größte, es ist das einzige, das uns Deutschen gelungen ist. Niemals in der Weltgeschichte ist um eine Kolonisation von solchem Umfange weniger Blut geflossen, weniger Gewalt geschehen, als um diese. Das gilt besonders von der deutschen Kolonisation im ehemaligen Polen. Jahrhundertelang haben hier die vielfach von den polnischen Königen ins Land gerufenen deutschen Kolonisten als treue polnische Untertanen gelebt und sind den Polen Lehrmeister höherer Kultur gewesen. Auch die Zeiten, in denen die Deutschen in Polen bedrückt und nicht selten entrechtet wurden, wissen nichts von deutscher Auflehnung in Polen zu melden. Als die Polen selbst sich schließlich außerstande zeigten, ein staatliches Leben zu erhalten und der starke preußische Rechts- und Ordnungsstaat Teile ehemals polnischen Reichsgebietes unter seine Herrschaft stellte, da war in diesen Gebieten schon jahrhundertelang deutsche Kulturarbeit geleistet worden. Es geschah das Seltene, daß die Aufrichtung staatlicher Herrschaft der kolonisatorischen und kulturrellen Erwerbung nicht voraufging, sondern nachfolgte. Die staatliche Einverleibung unserer Ostlande Posen und Westpreußen wäre nicht erfolgt und hätte nicht erfolgen können, wenn die polnische Adelsrepublik ein lebensfähiges Staatswesen gewesen wäre. Als die Einfügung in die deutsche Herrschaft des preußischen Staates erfolgte, wirkte sie wie eine späte, eine verspätete politische Inanspruchnahme des Rechtes, das die deutschen Bewohner Westpreußens und Posens durch ihre kulturellen Leistungen längst geschaffen hatten. Ganz abgesehen davon, daß wenn Preußen die Deutschen in Polen nicht unter deutsche Herrschaft gestellt hätte, sie unter russische Herrschaft gekommen wären.

Unsere Ostlande sind unser deutsches Neuland. Trotzdem sie um Menschenalter früher staatlich einverleibt worden sind als Elsaß-Lothringen und Schleswig-Holstein, sind sie doch jüngere nationale Errungenschaften. Im Westen zumal ist nur alter deutscher Reichsbesitz staatlich zurückgewonnen worden, Besitz, in dem die deutschen Kaiser schon unbestritten geboten, als sich östlich der Elbe weder ein deutsches Schwert mit dem wendischen gekreuzt hatte, noch ein deutscher Pflug in wendischen Boden gesenkt war. Dies Neuland im Osten, erobernd betreten in der Zeit höchster deutscher Reichsmacht, mußte uns bald staatlich und vor allem national Ersatz werden für verlorenes altes Land im Westen. „Es hat eine Zeit gegeben,“ sagte ich im Januar 1902 im preußischen Abgeordnetenhause, „wo man sehr tief Atem schöpfen mußte, wenn man vom heiligen Reich sprach, wo das Deutsche Reich im Süden und Westen weiter reichte als heute. Wir denken nicht daran, diese Zeiten zurückzuwünschen; wir denken nicht daran, unsere Grenzen in irgendeiner Richtung vorschieben zu wollen. Aber das, was uns die Vorsehung gewährt hat als Entschädigung und Ausgleichung für anderweitige Verluste, unseren Besitzstand im Osten, müssen und werden wir festhalten.“

Von weither gesehen möchte die deutsche Bewegung von Ost nach West und wieder nach Ost als etwas Einheitliches, etwas Ganzes erscheinen. Im 7. Jahrhundert haben wir Deutschen alles Gebiet rechts der Elbe geräumt und sind weit hinübergedrungen nach Westen bis tief hinein nach Frankreich. Holland, Flandern, Brabant, Burgund, Luxemburg und die Schweiz waren deutsches Reichsgebiet, waren zum Teil nationaldeutsches

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/135&oldid=- (Version vom 31.7.2018)