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ihrer Kultur überzeugt und beseelt von dem einer unbewußten Naturkraft gleichenden Drange, der eigenen Kultur weite und weitere Geltung zu erobern. Nicht allen Völkern ist diese Kraft bewußt. Sie war es jenen großen römischen Heerführern und Staatsmännern, die in Griechenland, Kleinasien, Nordafrika, vor allem in Gallien und Germanien erobernd vorgingen und auf die Eroberung mit den Waffen alsbald die Eroberung mit der überlegenen römischen Kultur folgen ließen. Ein solches unbeirrbares nationales Kulturbewußtsein lebt heut im englischen Volk. Der Engländer ist tief durchdrungen von der Überlegenheit der angelsächsischen Kultur. Er mißbilligt es wohl zuweilen, wenn andere Nationen mehr oder minder energisch mit der Propaganda ihrer Kultur vorgehen, aber er wirft selten die Frage auf, ob England selbst zu solchem Vorgehen etwa nicht berechtigt sei. Er ist überzeugt, daß englische Herrschaft und die ihr folgende Anglisierung eine Wohltat ist, und er entnimmt das Recht zu Ausdehnung und Eroberung seinem Bewußtsein von der Überlegenheit der angelsächsischen Kultur und angelsächsischer Institutionen. Die grandiose Schöpfung des britischen Imperiums, des größten Reiches, das die Welt seit dem Römerreich gesehen hat, für die niemals ein Opfer an Blut und Gut gespart worden ist, wurde und wird getragen von dem unerschütterlichen Bewußtsein und Willen des englischen Volkes überall da, wohin die englische Macht reicht, Träger einer höheren Kultur zu sein. Der englische Glaube an die Überlegenheit des eigenen geistigen, sittlichen, religiösen, rechtlichen und wirtschaftlichen Lebens ist die Lebenskraft der englischen nationalen Politik.

Höhere Kultur hat zu allen Zeiten einen politischen Rechtstitel verliehen. Der Glauben an eine wirkliche oder vermeintliche höhere Kultur hat stets einen Rechtsanspruch hervorgerufen. Als das Frankreich der großen Revolution mit seinen Heeren Europa überschwemmte, schuf es sich ein Eroberungsrecht auf Grund der vermeintlichen Segnungen republikanischer Freiheiten. Es fühlte sich als Träger einer überlegenen politischen Kultur gegenüber anderen Völkern, vor allem Deutschen und Italienern. Es gab besonders in unserem Vaterlande nicht wenige, die diesen Rechtstitel anerkannten und von ihrem Irrtum erst durch die bitteren Erfahrungen der napoleonischen Zwingherrschaft geheilt wurden. Die Kulturmission der französischen Revolution beruhte auf einer grundsätzlichen Verkennung des Wesens der Kultur, innerhalb deren neben Religion, Sitte, Recht und Bildung politische Institutionen nur nebengeordneten Wert haben, und sie verurteilte sich selbst durch die wachsende Brutalität der napoleonischen Herrschaft. Aber es gibt berechtigte Kulturmissionen. Solche haben die christlichen Kolonialmächte der Gegenwart in Afrika zu erfüllen. So ist Rußland nach Asien hin berechtigter Träger höherer Kultur. Und wenn der Kampf der höheren mit der niederen Kultur einmal aufhören sollte in der Weltgeschichte, so hätte unser Glaube an die Fortentwicklung der Menschheit an Boden verloren. Wir wären um eine große ideale Hoffnung ärmer.

Das Kolonisationswerk im deutschen Osten.

Eine Kulturmission ist es gewesen, die uns Deutsche einst über die Elbe und die Oder nach dem Osten geführt hat. Das Kolonisationswerk im deutschen Osten, das,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/134&oldid=- (Version vom 31.7.2018)