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Menge zu produzieren. Was wir vielleicht im Frieden und für den Augenblick durch Preisgabe der Landwirtschaft an die ausländische Konkurrenz gewinnen würden, das müßten wir im Kriege am Ende mit Elend, Hunger und ihren katastrophalen Folgen für das staatliche und soziale Leben bezahlen. Unsere Landwirtschaft kann zahlreiche und vor allem leistungsfähige Betriebe nur aufrechterhalten, wenn sie geschützt wird durch einen ausreichenden Zoll auf die Einfuhr fremder landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Dieser Schutz muß ihr gewährt werden.

Gerechtigkeit gegenüber allen Erwerbsständen.

Der Staat hat die Pflicht, für alle Erwerbsstände und Volksklassen zu sorgen. Er darf ein großes, wirtschaftlich bedeutungsvolles und national unentbehrliches Gewerbe wie die Landwirtschaft nicht die Kosten für ein besseres, bequemeres Gedeihen der anderen Erwerbsstände zahlen lassen. Der Staat muß seine Hilfe nach Maßgabe der Notdurft gewähren und die Allgemeinheit anhalten, sich in die notwendigen Lasten zu teilen. So gerecht es ist, daß die lohnarbeitenden Klassen gewaltige unmmittelbare Zuwendungen aus Reichsmitteln erhalten, so gerecht ist es auch, daß die Existenz der Landwirtschaft durch die mittelbare Hilfe des Zollschutzes gesichert wird. Das eine wie das andere ist ein nobile officium des Staates. Es ist ebenso falsch, von einer Bevorzugung der Landwirtschaft durch die Schutzzollpolitik zu sprechen, wie es verkehrt wäre, die Sozialpolitik als eine Bevorzugung unserer lohnarbeitenden Volksgenossen hinzustellen. Die wahre staatliche Gerechtigkeit besteht nicht darin, jedem Stand, Gewerbe oder Staatsbürger das gleiche zu gewähren oder zu versagen, nur damit keine äußeren Unterschiede bestehen, das wäre nur eine mechanische Gerechtigkeit. Die wahre Gerechtigkeit besteht darin, einem jeden nach Möglichkeit zu geben, was er notwendig braucht. Diese Gerechtigkeit hatte ich im Auge, als ich zwei Monate vor Einbringung des Zolltarifgesetzes bei dem Festmahl, das mir in meinem Geburtsort Flottbeck am 21. September 1901 der Pinneberger Kreistag gab, die wirtschaftliche Politik der Regierung Seiner Majestät dahin definierte, daß sie jedem das Seine geben wolle, getreu dem alten Hohenzollernschen Wahlspruch: Suum cuique. Unsere Zollpolitik hat eine doppelte Aufgabe zu erfüllen. Sie muß auf der einen Seite unsere einheimische Produktion in Landwirtschaft und Industrie durch ausreichenden Schutz fremder Konkurrenz gewachsen erhalten. Sie soll auf der anderen Seite durch langfristige Handelsverträge die auswärtigen Märkte für unsere exportierende Industrie und unsern Außenhandel offenhalten. Um die erste Aufgabe erfüllen zu können, müssen wir uns mit Zollschranken umgeben, um der zweiten gerecht zu werden, den Zollschutz so halten, daß wir den anderen Staaten nicht den Abschluß für sie selbst einigermaßen annehmbarer Handelsverträge mit uns unmöglich machen. Handelsverträge sind wie kaufmännische Geschäftsabschlüsse. Beide Teile verlangen mehr als sie am Ende erwarten zu erhalten und kommen sich schrittweise entgegen, bis auf irgendeiner Mitte das Geschäft zum Abschluß kommt. Beide Teile suchen unter möglichst geringen Opfern möglichst große Vorteile zu erringen. Der springende Punkt für jeden Staat ist der, Sorge zu tragen, daß nicht wichtige wirtschaftliche Interessen preisgegeben werden. Zwischen Zollschutz- und Handelspolitik

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/125&oldid=- (Version vom 31.7.2018)