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ewigen Frieden orientieren. Unsere deutsche Landwirtschaft, die mit ihren Arbeitslöhnen in Wettbewerb mit den hohen gewerblichen Löhnen steht, die auf altem Kulturboden nur mit den modernsten und kostspieligsten Betriebsmitteln intensiv wirtschaften kann, ist gar nicht imstande, zu Preisen produzieren zu können, wie es die großen jungen Agrarländer vermögen, die mit niedrigen Arbeitslöhnen auf jungfräulichem Boden arbeiten. Unsere Landwirtschaft bedarf eines Zollschutzes. Es muß die Einfuhr ausländischer Agrarerzeugnisse so weit mit Zöllen belastet werden, daß das ausländische Angebot nicht unter einen Preis herabgehen kann, bei dem die einheimische Landwirtschaft ihr gutes Auskommen findet. Schon die Herabsetzung der Agrarzölle zur Zeit der Caprivischen Handelspolitik hat unserer Landwirtschaft eine Krisis gebracht, die sie nur mit zäher Arbeitsenergie und in der Hoffnung auf eine baldige günstigere Neuorientierung der Zollpolitik hat überdauern können. Wenn wir auf einen ausreichenden Schutz der landwirtschaftlichen Produktion verzichten, um auf die Lebensmittelpreise mit Hilfe billiger Einfuhr zu drücken, so würde die Gefahr eintreten, daß der landwirtschaftliche Betrieb mehr und mehr unrentabel würde und schließlich in wachsendem Umfange eingestellt werden müßte. Wir würden den Weg Englands gehen.

Als ich in einer Zeit der Spannung zwischen Deutschland und England einem englischen Staatsmann darlegte, wie völlig unbegründet, ja unsinnig die englische Besorgnis vor einem deutschen Angriff, und nun gar vor einer deutschen Invasion wäre, entgegnete er mir: „Alles, was Sie sagen, ist richtig, und soweit ich persönlich in Frage komme, stoßen Sie eine offene Tür ein. Was aber die englische öffentliche Meinung angeht und den Mann auf der Straße, so dürfen Sie nicht vergessen, daß sich England in einer anderen Lage befindet als die Kontinentalmächte. Frankreich hat eine furchtbare Niederlage erlitten, aber wenige Jahre nach Gravelotte und Sedan hatte es sich so weit erholt, daß von einem ‚Krieg in Sicht‘ die Rede sein konnte. Fast ebenso rasch hat Österreich die Folgen von 1859 und 1866 überwunden. Trotz schwerer Niederlagen zu Wasser und zu Lande und einer bösen Revolution hat Rußland nach dem Japanischen Krieg nicht aufgehört, eine von mehr als einer Seite umworbene Weltmacht zu sein. Anders England. Unsere Bevölkerung lebt zu 80% in den Städten. Unsere Landwirtschaft vermag nur noch ein Fünftel des in England verbrauchten Weizens und nur noch die Hälfte des uns notwendigen Fleisches zu produzieren. Würde unsere Flotte besiegt und England vom Außenhandel abgeschnitten werden, so würden wir innerhalb weniger Wochen die Wahl haben zwischen Hungersnot und Anarchie oder einem Frieden auf Gnade und Ungnade.“ Länder mit blühender Landwirtschaft, Länder, wo wenigstens ein größerer Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig ist, wo die Landwirtschaft wenigstens zum Teil den inneren Markt versorgt und einen großen Teil der notwendigen Nahrungsmittel liefert, sind in kritischen Zeiten widerstandsfähiger und erholen sich nach solchen viel leichter als Länder, die nur auf Handel und Industrie angewiesen sind. Das hat schon Karthago gegenüber Rom erfahren. Auch die höchsten Industrielöhne nutzen nichts, wenn der Arbeiter für sein Geld keine Nahrungsmittel im Lande findet. Und das kann geschehen, wenn in Kriegszeiten die Grenzen ganz oder zum großen Teil gesperrt sind, und die einheimische Landwirtschaft nicht imstande ist, Nahrungsmittel in ausreichender

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/124&oldid=- (Version vom 31.7.2018)