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Wachstum der städtischen Einwohnerzahl bedeutet nicht eine Volksvermehrung, sondern eine ständige Volksverminderung, denn die vom Lande den Städten zuwandernden Frauen, die in den Städten aufwachsenden Frauen wirken an der Verringerung der Geburtenzahl im Reich. Nicht anders steht es mit der Gesundheit der Männer, die in der größeren oder geringeren Militärtauglichkeit zum Ausdruck kommt. Nach den statistischen Erhebungen, die auf Grund der Beratungen einer von mir im Jahre 1906 einberufenen Kommission angestellt wurden, stellte das flache Land, d. h. Gemeinden unter 2000 Einwohner 114 Militärtaugliche, die großen Städte über 100 000 Einwohner 65, die mittleren Städte von 20 000 bis 100 000 Einwohnern 83 Militärtaugliche für ein nach Maßgabe der Bevölkerung berechnetes Soll von 100 Tauglichen. Von den Eltern der Militärtauglichen stammten vom Lande 74,97%, aus den Großstädten 1,68%. Dabei zählt Deutschland 48 Städte mit über 100 000 Einwohnern, Frankreich nur 15, Italien 13, Osterreich-Ungarn 9. Etwa zwei Drittel unserer Bevölkerung leben in Städten und Industriebezirken. Die Landwirtschaft repräsentierte im Jahre 1850: 65%, 1870: 47%, 1899: 32% und 1912 nur noch 28,6% der Gesamtbevölkerung. Diese Zahlen sprechen eine sehr ernste Sprache. Sie sagen nicht mehr und nicht weniger, als daß jede Schwächung der Landwirtschaft eine Schwächung unserer Wehrfähigkeit, eine Verminderung unserer nationalen Macht und Sicherheit bedeutet. Handel und Industrie haben sich nur so glänzend entwickeln können, weil uns der Friede durch die Stärke unserer Rüstung erhalten geblieben ist, und sie werden künftig nur weiter gedeihen können, wenn uns der Schutz unserer Wehrkraft unvermindert erhalten bleibt. Das bedingt aber eine kräftige und zahlreiche Landbevölkerung, die in einer hochentwickelten Landwirtschaft ausreichende Arbeit und Ernährung findet. Industrie und Handel sind um ihrer selbst willen auf das höchste am Gedeihen der deutschen Landwirtschaft interessiert. Wie die statistischen Angaben zeigen, wird der Landbevölkerung in Zukunft noch mehr, als es seit dem Ausgang der neunziger Jahre schon der Fall ist, die Aufgabe zufallen, Erwerb und Eigentum im Deutschen Reich zu schützen.

Schutz der Landwirtschaft.

Ein mir seit vielen Jahren befreundeter liberaler Gelehrter sagte mir vor Jahren in Norderney, angesichts der vor meinem Hause vorüberziehenden Schiffe, er verstände nicht, wie ich, ein im übrigen aufgeklärter Mann, durch den Zolltarif unserer Wirtschaftspolitik eine so agrarische Richtung habe geben können. Ich wies auf ein gerade vorüberfahrendes Schiff und sagte ihm: „Ein Schiff ohne genügenden Ballast mit zu hohen Masten und zu schwerer Takelage schlägt um. Die Landwirtschaft ist und bleibt der Ballast. Industrie und Handel sollen Masten und Segel sein. Ohne sie kommt das Schiff nicht vorwärts. Aber ohne Ballast schmeißt es um.“ Der Kapitän eines Schiffes soll gewiß auf schnelle Fahrt sehen. Aber er darf die Fahrtgeschwindigkeit nicht mit einem Opfer an Fahrtsicherheit erkaufen wollen. Soll unser Reichsschiff schnell und dabei sicher seine stolze Fahrt fortsetzen, so hat die Schiffsführung dafür zu sorgen, daß die Landwirtschaft schwer genug im Rumpf des Schiffes wiegt.

Der Schutz der Landwirtschaft ist eine nationale Pflicht ersten Ranges. Eine

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/121&oldid=- (Version vom 31.7.2018)