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Die katholischen Kreise haben sich ein hohes Verdienst dadurch erworben, daß sie die katholische Arbeiterschaft zu einem großen Teil von der sozialdemokratischen Bewegung zurückgehalten haben. Aber daß auch der Klerikalismus kein Arcanum gegen revolutionäre Bewegungen besitzt, zeigt die französische wie die italienische, die portugiesische wie die spanische Geschichte. Bei uns können sich die konservativen Elemente schon deshalb nicht allein auf die klerikalen stützen, weil eine Mehrheit, die nur aus Konservativen und Zentrum besteht, in dem überwiegend protestantischen Deutschland mit seiner ganz überwiegend vom protestantischen Geist erfüllten Bildung immer eine Mehrheit mit schmaler Basis bleibt, eine Mehrheit, die die Gefahr in sich trägt, zu einer Koalition aller linksstehenden Elemente zu führen. Damit wird aber gerade bewirkt, was verhindert werden muß: eine Annäherung weiterer Kreise der bürgerlichen Intelligenz an die Sozialdemokratie.

Eine lebendige nationale Politik das wahre Mittel gegen die Sozialdemokratie.

Das wahre Mittel, die Mehrheit der Nation von den revolutionären Zielen der Sozialdemokratie, von dem verführerischen Glauben des Sozialismus an eine andere, unendlich bessere Zukunft zurückzuhalten ist eine mutige und großzügige Politik, die die Freude an der Gegenwart des nationalen Lebens zu erhalten versteht. Eine Politik, die die besten nationalen Kräfte anspannt, eine Politik, die dem zahlreichen und immer zahlreicher werdenden Mittelstand, der in seiner überwältigenden Mehrheit fest zur Monarchie und zum Staat steht, anzieht, erhält und stärkt, die ohne bureaukratische Voreingenommenheit dem Talent auch im Staatsleben freie Bahn schafft, eine Politik, die an die besten nationalen Empfindungen appelliert. Das nationale Moment muß immer wieder durch nationale Aufgaben in den Vordergrund gerückt werden, damit der nationale Gedanke nicht aufhört, die Parteien zu bewegen, zu binden und zu trennen. Nichts wirkt entmutigender, lähmender und verstimmender auf ein geistig reges, lebendiges und hoch entwickeltes Volk, wie es das deutsche ist, als eine monotone, unlebendige Politik, die eine Aufregung der Leidenschaften durch starke Entschlüsse scheut, um den Kampf zu vermeiden. Mein Amtsvorgänger, Fürst Chlodwig Hohenlohe, war als Botschafter in Paris mir während langer Jahre ein wohlwollender Chef, der sich auch außerhalb der Dienststunden gern mit mir unterhielt. Als er mir einmal einen damals bekannten bayrischen Staatsmann als besonders tüchtig, gewissenhaft und fleißig rühmte, fragte ich ihn, weshalb er als bayrischer Ministerpräsident den Betreffenden nicht für einen Ministerposten in Vorschlag gebracht habe. „Zum Minister war er nicht leichtsinnig genug“, erwiderte der Fürst mit großem Ernst. Als ich meinem Befremden darüber Ausdruck gab, daß ein so besonnener, ruhiger und überaus vorsichtiger Mann wie Fürst Hohenlohe so etwas sagen könne, erwiderte mir der weltkluge Fürst: „Meine Bemerkung sollen Sie nicht als eine Aufforderung zu leichtsinniger Lebensführung auffassen, zu der die Jugend ohnehin neigt. Was ich sagen wollte, war politisch gemeint. Ein Minister muß eine ordentliche Portion Entschlußfreudigkeit und Schlagkraft in sich haben. Er muß auch gelegentlich einen großen Einsatz riskieren und gegen eine hohe

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/113&oldid=- (Version vom 31.7.2018)