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in Deutschland das Rückgrat gebrochen würde, macht für uns die Lösung des sozialdemokratischen Problems besonders schwer. Der praktische Modus vivendi, der in Süddeutschland hier und da mit der Sozialdemokratie angestrebt worden ist, erscheint für Preußen nicht möglich. Als Militär- und Beamtenstaat ist Preußen groß geworden, als solcher hat es das deutsche Einigungswerk durchführen können, Militär- und Beamtenstaat ist es bis auf den heutigen Tag im wesentlichen geblieben. Die starke Bindung in Preußen von oben her hat von jeher eine besonders kräftige Gegenbewegung erzeugt. Die Berliner Nörgel- und Kritiksucht war in ganz Deutschland schon bekannt in der Zeit des absoluten Königtums, als Friedrich der Große gelegentlich die Pamphlete niedriger hängen ließ. Nur eine Beamtenschaft, die so sehr wie die preußische an Führung gewöhnt war, konnte so vollständig den Kopf verlieren, als im Unglücksjahr 1806 der Regierung die Zügel entglitten. Die bürgerliche Demokratie blieb in Preußen auch nach dem Übergang des Staates zu konstitutionellen Verfassungsformen in starrerer Opposition als im deutschen Süden und ging in ihren Forderungen weiter. Dementsprechend war auch der reaktionäre Rückschlag während der fünfziger Jahre in Preußen von besonderer Heftigkeit. Die Sozialdemokratie, die in Süddeutschland vielfach versöhnliche Allüren annimmt und sich geneigt zeigt, von den sozialistischen Programmforderungen für die praktische Politik des Tages manches abzulassen, ist in Preußen ebenso radikal in ihrem Auftreten wie in ihren Forderungen. Im natürlichen Gegensatz dazu hat Preußen einen Konservativismus, wie ihn keiner der anderen deutschen Bundesstaaten kennt und ihn auch nicht braucht. Preußen ist als Staat ein Mann und wie jeder rechte Mann voll schroffer Gegensätze und nur tüchtiger Leistungen fähig, wenn in ihm ein starker Wille herrscht. Nach außen wie nach innen ist dieser Staat meist nur entweder ganz stark oder ganz schwach gewesen. Taten größter Stärke und größter Schwäche liegen hier dicht bei einander. Jena und Leipzig trennen nur sieben Jahre. Auf den traurigen Rückzug der Truppen aus Berlin am 19. März 1848 und auf die schwächliche Politik, die über Bronzell und Olmütz zum alten Bundestag zurückführte, folgten zwanzig Jahre später Sadowa und Sedan. Unter einer kräftigen Obrigkeit ist Preußen in sich fester gewesen, hat eine opferwilligere und diszipliniertere Bevölkerung gefunden als irgendein anderer Staat. Wenn die Obrigkeit schwach und mutlos, zaghaft und farblos in der Äußerung ihres Willens wurde, hat Preußen ein Versagen des gesamten staatlichen Apparates erlebt, wie ebenfalls kaum ein anderer Staat. Kopflos wie 1806, als der Minister des Innern des dem Feinde geöffneten Landes Ruhe für die erste Bürgerpflicht erklärte und die hohe Berliner Beamtenschaft den Sieger devotest am Brandenburger Tor begrüßte, waren die Behörden auch im Revolutionsjahr 1848, wo der Oberpräsident der Provinz Sachsen stolz verkündete, er nähme seine Stellung über den Parteien, während eine mächtige Parteibewegung die Grundfesten der Monarchie erschütterte. Wollte die preußische Regierung eine Verständigung mit der Sozialdemokratie versuchen, eine Partei, die die monarchischen und militärischen Fundamente des preußischen Staates seit Jahrzehnten bekämpft, als berechtigt anerkennen: das preußische Beamtentum, der Mittelstand, der ostelbische Landbewohner und am Ende selbst die Armee würden irre werden an Staat und Obrigkeit. Der Verzicht der Regierung auf den Kampf gegen die Sozialdemokratie würde in Preußen verstanden werden als

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/108&oldid=- (Version vom 31.7.2018)