Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/106

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

von der Regierungslokomotive im vorgezeichneten Geleise mitziehen zu lassen, sie würde selbst Lokomotive sein wollen und versuchen, nach der entgegengesetzten Richtung zu ziehen. Einem Mann aus ihrer Mitte, der als Minister in den Dienst der bestehenden Zustände tritt, würde die Sozialdemokratie so wenig folgen, wie es jemals eine andere deutsche Partei getan hat.

Es kommt hinzu, daß der dem deutschen Volke eigene doktrinäre Zug auch in unserer Sozialdemokratie mächtig ist. Der deutsche Sozialdemokrat hängt zäh an den Programmsätzen seiner Partei, zäh und kritiklos und unbekümmert um die inneren Widersprüche des sozialdemokratischen Programms. Weil dieses Programm unvereinbar ist mit dem bestehenden Staat, ist die deutsche Sozialdemokratie unversöhnlich. Die deutschen Arbeiter sind mehr als die irgendeines anderen Landes geneigt, den sozialistischen Leitsätzen, den geistvollen Trugschlüssen von Lassalle, dem mit mächtiger Denkkraft und seltenem Scharfsinn, mit ungewöhnlichen Kenntnissen und mit noch ungewöhnlicherer Dialektik konstruierten, aber durch die historische Entwicklung widerlegten und in seinem Fundament erschütterten System von Marx unbedingten Glauben zu schenken. Als Herr Giolitti den italienischen Sozialisten zurief, daß sie die Marxschen Lehrsätze ja längst zum alten Eisen geworfen hätten, antwortete ihm verständnisvolle Heiterkeit. Bei uns würde eine solche Apostrophierung entrüstete Proteste hervorrufen. Unsere Sozialdemokratie, die aus der Eisenacher Richtung hervorgegangen ist, der nicht Lassalle und Rodbertus, sondern Marx und Engels, Bebel und Liebknecht die Wege gewiesen haben, steht in einem ungleich schrofferen Gegensatz zum Staat wie die sozialistischen Parteien Frankreichs und Italiens, die den sozialistischen Theorien einen mehr akademischen Wert beimessen, die nicht allein auf den sozialistischen Gedanken, sondern auch auf nationale Erinnerungen gegründet sind. Der französische Sozialismus wurzelt im letzten Ende in der großen Revolution, der italienische im Risorgimento. Diese Erinnerungen sind mindestens nicht abgestreift worden, und Revolution wie Risorgimento waren von leidenschaftlichem patriotischem Geist bewegt. Unserer Sozialdemokratie fehlt diese nationale Basis. Sie will von den deutschen patriotischen Erinnerungen, die monarchischen und militärischen Charakter tragen, nichts wissen. Sie ist nicht wie die italienische und französische ein Niederschlag im nationalen geschichtlichen Entwicklungsprozeß, sondern sie ist seit ihrem Entstehen in bewußten Gegensatz zu unserer Geschichte und unserer nationalen Vergangenheit getreten. Sie hat sich selbst außerhalb unseres nationalen Lebens gestellt. Was in diesem bestehenden Staat erreicht und geleistet wird, das interessiert sie nur, soweit es dazu dienen kann, die geltenden Ordnungen zu zermürben und damit für die Durchführung rein sozialistischer Ideen nützliche Vorarbeit zu leisten. In dem Kalender, den der „Vorwärts“ in jedem Jahr herauszugeben pflegt, werden Bismarck und Moltke, Blücher und Scharnhorst, Ziethen und Seidlitz nicht genannt, Leipzig und Waterloo, Königgrätz und Sedan nicht erwähnt, wohl aber eine Reihe russischer Nihilisten und italienischer Anarchisten mit ihren Attentaten aufgeführt.

Wie eine der besten deutschen Tugenden, das Disziplingefühl, in unserer Sozialdemokratie zu besonderem und bedenklichem Ausdruck kommt, so auch unser alter Fehler, der Neid, der schon Tacitus bei unsern Altvordern auffiel. Propter invidiam, sagt

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/106&oldid=- (Version vom 31.7.2018)