Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/103

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und, wenn sie in einzelnen Bestimmungen sich nicht als ausreichend erweisen, ergänzt werden.

Ein gewaltsames Vorgehen gegen die Sozialdemokratie kommt ohne weiteres in Frage, wenn es durch einen etwaigen gewaltsamen Ausbruch der sozialdemokratischen Bewegung herausgefordert wird. Das aber ist kaum anzunehmen und ist unwahrscheinlich, wenn die Regierung ihre Aufgabe gegenüber der sozialdemokratischen Bewegung mit Geschick anfaßt und mit Energie durchführt. Es gibt Politiker, die meinen, es wäre kein Unglück, wenn es zu einem gewaltsamen Ausbruch käme, weil sich dann die Möglichkeit bieten würde, den gordischen Knoten der sozialistischen Frage mit dem Schwerte zu durchhauen und so eine endgültige Lösung zu schaffen. Sollte die Sozialdemokratie unklug und zugleich verbrecherisch genug sein, zu offener Auflehnung überzugehen, so müßten natürlich alle Rücksichten und alle Bedenken schweigen vor der Notwendigkeit, die Fundamente unseres staatlichen und kulturellen Lebens zu verteidigen. Eine solche Entwicklung aber herbeizuwünschen, ist sehr kurzsichtig. Ich habe mich einmal im Reichstag darüber ausgelassen, was von einer Politik zu halten ist, die im eigenen Lande eine gewaltsame Entladung herbeiwünscht oder gar fördert in der Hoffnung, dann durch gewaltsame Unterdrückung zu besseren Zuständen zu kommen. Politique de la mer rouge wurde sie in Frankreich vor 40 Jahren genannt. Man sollte das Rote Meer durchschreiten, um ins gelobte Land zu gelangen. Es liegt nur leider die Gefahr sehr nahe, daß man im Roten Meer ertrinkt und das gelobte Land niemals erreicht. Ein großer Teil der französischen Monarchisten operierte nach diesem Rezept, als die Vorzeichen der großen Revolution sich mehrten. Anstatt sich mit den Gemäßigten zu verständigen, verfolgten sie gerade diese mit intensiver Abneigung und zogen vor, indirekt die extremen Elemente zu begünstigen in der Hoffnung, dadurch die Sündflut herbeizuführen, nach der dann ihr Weizen blühen würde. Die Sündflut kam, aber der Weizen blühte nicht. Der Versuch, in der Politik den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, ist sehr selten gelungen.

Deutschland ist kein Land für Staatsstreiche. Kein Volk der Welt besitzt ein so starkes Rechtsbewußtsein wie das deutsche. Nirgends erzeugt ein Bruch des Rechts, des gemeinen wie des öffentlichen, so leidenschaftliche Entrüstung und wird so schwer vergessen wie bei uns. Die Abneigung der meisten deutschen Parteien gegen Ausnahmegesetze und Ausnahmemaßregeln ist auch zurückzuführen auf ihre eingeborene Scheu, das Recht zu verletzten. Der Franzose ist in diesem Punkte weniger empfindlich. Der Terrorismus der großen Revolution wird ihr noch heute von ihren Anhängern zum Ruhm angerechnet. Wenn Thiers im 7. Bande seiner Geschichte der französischen Revolution auf die Schreckensherrschaft des Konvents zurückblickt, so schließt er mit den Worten: „Le souvenir de la Convention nationale est demeuré terrible; mais pour elle il n’y a qu’un fait à alléguer, un seul, et tous les reproches tombent devant ce fait immense: elle nous a sauvés de l’invasion étrangère.“ Herr Clémenceau meinte, man müsse die Revolution mit allen ihren Exzessen und Rechtsbrüchen en bloc nehmen, als Ganzes gelten lassen. Der Staatsstreich des ersten Napoleon geriet in Vergessenheit, als die Sonne von Austerlitz über dem Kaiserreiche aufging. Auch Napoleon III. wurde an den

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/103&oldid=- (Version vom 31.7.2018)