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dem Augenblick an Stoßkraft gewinnen, in dem sie sich der Gefahr gewaltsamer Unterdrückung ausgesetzt sieht. Nichts gibt einer Sache größere werbende Kraft, als wenn ihr durch gegnerischen Übereifer das Glück zuteil wird, Märtyrer ihrer Überzeugung zu stellen. In dieser Beziehung sei nur an den durchaus negativen Erfolg der berüchtigten Demagogenverfolgungen des zweiten, dritten und vierten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts erinnert. Indem man eine Anzahl mehr oder minder harmloser Wortführer der Demokratie außer Recht stellte, warb man der damaligen Demokratie einen Rechtsanspruch in weiten Kreisen des Volkes, den sie allein durch die Kraft ihrer Ideen nicht gewonnen hätte. Das Resultat war der Ausbruch von 1848. Wie sich heute bei einem gewaltsamen Vorgehen der Regierung gegen die Sozialdemokratie die Dinge im einzelnen entwickeln würden, läßt sich natürlich nicht sagen. Die Lage ist eine wesentlich andere als im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Auf der einen Seite ist die moderne Sozialdemokratie weniger gutmütig, weniger idealistisch als die bürgerliche Demokratie des Vormärz, es fehlt ihr der warmherzige Patriotismus der alten deutschen Demokraten, während ihr die wirtschaftlichen sozialistischen Ziele eine unvergleichlich größere Schärfe und Wucht geben. Auf der anderen Seite fehlten im absoluten Preußen die nützlichen und unentbehrlich gewordenen Ventile des parlamentarischen Lebens, der Preßfreiheit und des Vereins- und Versammlungsrechts. Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie würden eben diese Ventile verstopfen. Sie würden die Sozialdemokratie zwingen, aus einer starken Parteibewegung ein mächtiger Geheimbund zu werden. Gleichsam eine permanente Verschwörung mit allem Gift, aller Verbitterung und dem Fanatismus, die noch jeder Bewegung eigen gewesen sind, der von Staats wegen der Stempel der Ungesetzlichkeit aufgeprägt wurde. Die sozialdemokratische Anhängerschaft würde sich nur noch fester zusammenschließen. Aber für Regierung und Bürgerschaft würde aus dem offenen, in seinen Mitteln kontrollierbaren Gegner ein versteckter Gegner werden, dessen Wege nicht immer zu übersehen sein würden. Wenn die Regierung sich zum Kampf mit gewaltsamen Mitteln entschließt, begibt sie sich selbst der Möglichkeit, mit friedlichen Mitteln am Ende wirksamer vorgehen zu können. Die Gewalt kann jedenfalls nur das Äußerste, das Allerletzte sein. Ihre Anwendung kommt in Frage, wenn alle friedlichen Mittel offenbar versagt haben. Das ist noch nicht der Fall. Sind die Wege der Gewalt einmal beschritten, so ist eine Umkehr gleichbedeutend mit dem Eingeständnis der erlittenen Niederlage. Versagen die Mittel, die bestehendes Recht und Gesetz an die Hand geben, so bleibt das letzte Mittel noch immer. Kein guter General setzt die letzten Reserven an die erste Entscheidung, er behält sie in der Hand, um einer etwaigen kritischen Wendung des Kampfes nicht wehrlos gegenüberzustehen. Das gute Kriegsgesetz gilt auch für politische Kämpfe. Diejenigen politischen Erfolge sind die besten, die mit den geringsten Opfern errungen werden. Im Notfall sind die stärksten Mittel die besten. Ohne dringende Not und vor allem ohne die Gewißheit des Erfolges soll man sie nicht anwenden. Bismarck durfte wohl alle Regeln durchbrechen, von einem äußersten kühnen Entschluß schnellen Erfolg erwarten. Wir dürfen das heute nicht und sind auf unverdrossene, zielbewußte Arbeit angewiesen. Im Rahmen solcher Arbeit liegt es natürlich, daß die der Aufrechterhaltung von Ordnung, Sicherheit und Freiheit dienenden Gesetze furchtlos angewandt

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/102&oldid=- (Version vom 31.7.2018)