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unaufhaltsam wachsende Macht beruht zu einem großen Teil der Nimbus der Sozialdemokratie. Auch in diesem Sinne enthält der Ausfall der Wahlen von 1907 eine große und dauernde Lehre.

Das Zusammenstehen von Konservativen und Liberalen in Haupt- und Stichwahl bewirkte 1907 trotz des Anwachsens der sozialdemokratischen Stimmenzahl eine sehr erhebliche Verminderung der sozialdemokratischen Mandate. Die Blockwahlen hatten in dieser Hinsicht einen noch größeren Erfolg als die Kartellwahlen von 1887. Das Kartell warf die sozialdemokratische Fraktion von 24 auf 11 Mandate zurück bei einem Anwachsen der sozialdemokratischen Stimmen um fast ein Drittel. Der Block dezimierte die Zahl der sozialdemokratischen Mandate von der im Jahre 1903 gewonnenen Zahl von 81 auf 43, während sich die sozialdemokratischen Stimmen gleichzeitig etwa um den sechsten Teil vermehrten. Dabei gewannen in beiden Fällen dort das Kartell, hier der Block die Mehrheit im Reichstag. Der sozialdemokratische Verlust wurde konservativer und liberaler Gewinn. Der äußere Grund dieser Erscheinung ist der, daß in fast allen Wahlkreisen, die der Sozialdemokratie mit Erfolg bestritten werden können, Liberalismus und Konservativismus so stark vertreten sind, daß sie vereint die Sozialdemokratie aus dem Felde schlagen können, getrennt der Sozialdemokratie das Feld überlassen müssen. Es kommt allerdings darauf an, den Wahlkampf so zu disponieren und zu führen, daß Konservative und Liberale zusammengehen können. Von den 69 Wahlkreisen, die in den Januarwahlen von 1912 von der Sozialdemokratie erobert worden sind, waren durch die Wahlen von 1907 nicht weniger als 66 in konservativen oder liberalen Besitz gekommen, und zwar 29 in den Besitz der konservativen Parteien und ihrer Nachbarn, 37 in den der liberalen Parteien. Die Wahlen von 1907 hatten der Sozialdemokratie den stärksten Verlust seit dem Bestehen des Reichstags zugefügt, die Wahlen von 1912 haben ihr den größten Gewinn gebracht. Die Parteien der Rechten sanken von 113 Mandaten, die sie 1907 erobert hatten, in den Wahlen von 1912 auf 69 Mandate. Das ist der tiefste Bestand der Rechten seit dem Jahre 1874. Dem Liberalismus brachten die Wahlen von 1912 die bisher schwächste Vertretung im Reichstag überhaupt. Für die Wahlen von 1907 waren zum erstenmal die Konservativen und die Liberalen aller Schattierungen unter einen Hut gebracht worden. Die Wahlen von 1912 sahen zum erstenmal eine enge Koalition aller links stehenden Elemente. 1907 ging die Rechte mit 113 Mandaten gegenüber 106 Liberalen, 105 Zentrumsvertretern und 43 Sozialisten als die stärkste Gruppe aus den Wahlen hervor. Im Jahre 1912 wurde die Sozialdemokratie mit 110 Mandaten die stärkste Partei im Reichstag, neben 90 Zentrumsvertretern, 85 Liberalen und 69 Konservativen aller Nuancierungen. Der Vergleich zwischen 1907 und 1912 legt die Schuldfrage nahe. Ich will sie unbeantwortet lassen. Der Vergleich gibt aber interessante Lehren. Er zeigt, daß der Konservativismus an der Seite des Zentrums keinen Ersatz für den Verlust finden kann, den er durch den Mangel an Fühlung nach links erleidet. Er zeigt, daß die Sozialdemokratie die ungünstigsten Chancen im Wahlkampf hat, wenn es gelingt, den Liberalismus von ihr fernzuhalten, daß die Sozialdemokratie die größten Erfolge erringen kann, wenn der bürgerliche Liberalismus an ihre Seite tritt oder an ihre Seite gedrängt wird.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/100&oldid=- (Version vom 31.7.2018)