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Ludwig Erk (Herausgeber): Deutscher Liederhort

Liede wird hoffentlich wahrgenommen werden, wie sehr ich durch Prüfung des Vorhandenen genaue Worte und gesicherte Lesarten zu geben mich beflissen. Kein einziger Text ist ununtersucht geblieben; an manchen ist die Arbeit von Tagen, nicht von Stunden gewendet. Nicht geringe Noth haben die sogenannten Mischlinge (vgl. z. B. S. 365) gemacht, welche in neuerer Zeit, mit dem Zurückweichen der Tradition, immer häufiger geworden, und bei denen Trennung und Auseinanderhalten um so schwieriger ist. Ihre genaue Kenntnis ist nur dadurch zu erzielen, daß das Lied in möglichst vielen und in den verschiedensten Gegenden aufgenommen werde; denn die jetzige Zeit begnügt sich leider zu sehr mit dem fragmentarischen Singen der Lieder, deren Ganzes zu erhalten keine leichte Mühe ist[1]. Die Texte, welche sich bei Herder, Elwert, v. Arnim u. A. finden, dürften somit durch gegenwärtige Sammlung nicht unwesentlich bereichert und ihrem Original näher geführt sein. Aber den Tadel, welchen gerade das Wunderhorn wegen seiner Texte oft über Gebühr erfahren, sollte, wer die Zeit seines Entstehens gegen die Fortschritte der folgenden Jahre hält, nicht aufkommen lassen, zumal da jüngere Leistungen häufig hinter jenem zurückgeblieben. Für eine einigermaßen gesicherte Fassung müssen beide, Texte und Melodien, gemeinschaftlich untersucht werden, und das geschieht singend. Nur so ist es möglich, die Worte correkt nach der Anzahl der Silben herzustellen und die über- und minderzähligen Silben zu beseitigen, durch welche die Lieder ungelenkig, starr und aus ihrem natürlichen Flusse gebracht werden, – die schwache Seite der meisten Liedersammlungen.

Nicht jedoch möchte ich zu der Meinung Veranlassung geben, als hielte ich durch diese meine Recension die Lieder abgeschlossen: vielmehr hoffe ich, daß auch Andere an ihrem Theile das thun oder nachholen werden, was mir zu erledigen nicht gelingen wollen. Zu dieser Weiterführung des Angebahnten möge der Apparat der vielen Lesarten dienen, welche reichlich vermehrt werden könnten, wenn berufene Männer, besonders in abgelegenen, einsamen Gegenden nachzuforschen nicht ermüden wollten, um die Lieder von alten Leiden zu heilen. Aber schon die jetzt gesammelten Abweichungen der Texte aus den verschiedenen Gegenden werden dem tiefer Blickenden nicht wenig


  1. „Die Kunst, Lieder aus dem Munde des Volkes zu sammeln, besteht in dem, das Geschäft des Kunstrichters einschließenden Bienenfleiße: über Ein und dasselbe Lied nicht bloß Einen Mund, und zwar mehr als Einmal, in bedeutenden Zwischenräumen zu vernehmen, sondern es Vielen – ja, wenn es möglich wäre, Allen abzufragen, die es besitzen, und die verschiedenen Sänger gleichsam als eben so viele, mehr oder minder reichhaltige, leserliche und abweichende Handschriften zu betrachten, aus denen sich der Text zusammentragen, und durch sorgfältige Vergleichung in seiner möglichstschönen Gestalt herstellen lasse.“ (J. G. Meinert, Alte teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens. S. IX.)
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Ludwig Erk (Herausgeber): Deutscher Liederhort. Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin, Berlin, Preußen 1856, Seite IX. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Liederhort_(Erk)_p_009.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)