Seite:Deutscher Dichterwald 231.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Hier liegt ein Skalde! schwirrt am Abend
Auch einst er ob der Sängergruft.
Er sann und sann – da wiegt’ ihn labend
In linden Schlaf die Frühlingsluft.

25
Da kam’s ihm vor im ernsten Traume,

Als thu’ sich auf das Grabesthor,
Und wall’ in Spätroths goldnem Saume
Der alte Sänger mild hervor.

Der sang ein Lied in seine Saiten;

30
Hier liegt ein Skalde! fieng sich’s an,

Doch brach es sich im hellen Streiten
Ganz herrlich fort und fort die Bahn.

Der Meister war mit Singen fertig,
Und sprach: „mein Schäfer, bist mir lieb.

35
Die Treue sey des Lohns gewärtig,

Wie seiner Blüth’ ein Maientrieb.

Kannst du, erwacht, dieß Lied behalten,
Wie ich vollendend dir es sang,
So wirst fortan als Meister schalten

40
Mit herzerfreuendem Gesang.“


Und auf der alten Schlosseshalde
Wacht der entzückte Schäfer auf,
Beginnt halb scheu: hier liegt ein Skalde!
Und fürder strömt sein Liedeslauf.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_231.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)