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Sankt Walderichs Capelle zu Murrhardt.

In alter Burg auf wolk’ger Höh
Der fromme Kaiser Ludwig saß,
Er trug im Herzen manches Weh,
Vom Schmerz er nimmermehr genas.

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Wohl sang durch Waldes Einsamkeit

Mit süßem Ton die Nachtigall,
Doch nicht verscheucht des Kaisers Leid
In stiller Nacht der liebe Schall.

Wohl sah des Mondes milder Schein

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Durch manchen dichtbelaubten Baum,

Der Kaiser schlief in Thränen ein,
Doch träumt’ er wundersamen Traum.

Bei einem Kreutz im grünen Thal,
Da sah er einen Greisen knien,

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Das Haupt bekrönt mit heil’gem Stral,

Zu seinen Füßen Lilien blühn.

„Vom Himmel eine Stimme ruft:
Folg’ ihm, er wird dein Helfer seyn!“
Da ward so glänzend blau die Luft,

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Aufblüht’ das Thal in Duft und Schein.


Es schwand der Traum, sein Auge war
Noch thränenschwer am lichten Tag:
Das Kind der Nacht, der Thau, so klar
Auf himmelblauer Blume lag.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_169.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)